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Ich dusche, ziehe mich an, frühstücke, wie immer mit Stanislaus auf dem Schoß. Morgens etwas Eigenes zu essen fällt ihm nicht ein, da trinkt er seinen Kakao. Dafür ißt er seinem Papa das halbe Frühstücksbrot weg. Das heißt, er ißt das Brot nicht, er leckt die Butter ab, was er mit lautem» Puta! Puta!«-Geschrei kommentiert. Solange er das tut, fahre ich mit ihm nicht nach Spanien auf Urlaub.

Ich schleppe meine Tasche zum Bus. Ich denke über den Kannibalen Meiwes nach, ausgelöst durch einen Passanten, der ihm ähnlich sieht. Ich überlege, daß viele der Menschen, die mir da entgegenlaufen, sich vermutlich beim Anblick ihrer Entgegenkommenden Verschiedenes denken. Sich bei meinem Anblick etwas denken, so wie ich es ja auch bei ihnen tue. Der eine will mich vielleicht verhauen, der andere beschimpfen, der dritte auslachen. Einer wie Meiwes aber, der will mich fressen. Das ist schon ein beunruhigender Gedanke.

Einfacher wäre es natürlich, jetzt nach Schwechat zu fahren und in ein Flugzeug zu steigen, aber Flugangst, schreckliche Flugangst. Also Westbahnhof.

Dort folge ich einem Ritual. Zunächst leiste ich mir den Luxus, meine Tasche für drei Euro ins Schließfach zu sperren. Zum einen, um die Hände frei zu haben, vor allem aber, weil ich in der Furcht lebe, in Geschäften den Diebstahlsdetektor am Ausgang anschlagen zu lassen, und dann müßte ich meine Tasche ausräumen, und womöglich fände sich darin ein Gegenstand, den ich in dem betreffenden Geschäft gestohlen haben könnte usw. usw. Jedenfalls muß die Tasche weg. Dann kaufe ich die Fahrkarte, um das Unangenehmste hinter mich gebracht zu haben. Es folgt der schöne Teiclass="underline" durchs News & Books zu streifen und einen Packen Zeitschriften zu kaufen und vielleicht ein, zwei Bücher dazu.

Zuerst sehe ich mich bei den Romanen um. Von mir haben sie wie üblich keinen. Ich gehe zu den Sachbüchern. Es passiert, was mir in Bahnhofsbuchhandlungen immer passiert, ich nehme ein Buch, das mich eigentlich nur mäßig interessiert, das ich mir woanders nicht kaufen würde, aber die Aussicht auf eine lange Zugfahrt läßt mich leichter zugreifen. Bei den Zeitschriften kenne ich dann überhaupt keine Hemmungen mehr. Eine Ausgabe von Schach, ein Clever & Smart (glücklich erwische ich eines, das ich noch nicht habe), die FAZ, die Süddeutsche, den Spiegel, das Volltext, ein Reisemagazin mit schönen Fotos, ein Trekkermagazin mit schönen Fotos, eine Männerzeitschrift. Ich zahle dreißig Euro. Manchmal werde ich gefragt, wieso ich für Lesungen so viel verlange, und ich antworte wahrheitsgemäß, ich habe viele Auslagen.

Eine Dreiviertelstunde vor Abfahrt steht der Zug schon da. So mag ich es. Ich suche mir einen Platz, selbstverständlich im Großraumwagen, in einem Sechserabteil entsteht viel leichter Konversation. Ich breite mich aus, damit nur ja niemand auf die Idee kommt, den Platz mir gegenüber zu beanspruchen. Ich knacke eine der Bierdosen, die ich mir am Bahnsteig besorgt habe. Was zuerst lesen? Schach.

Außer mir ist niemand im Waggon, es ist still, ich fühle mich wohl. Mit einer einzigen Einschränkung: Ich habe einen Ohrwurm, der mir zunehmend auf die Nerven geht.

Von hinten kommt ein Mann, der zwei Reihen hinter mir Platz nimmt. Mich ärgert das. Der Waggon ist groß genug, um sich gegenseitig vom Leib zu bleiben, warum kann sich der Kerl nicht ans andere Ende setzen?

Nachdem ich den ersten Artikel gelesen habe, schaue ich auf. Von meinem Platz aus fällt mein Blick automatisch auf die Schiebetür, durch die man in den nächsten Waggon gelangt. Hinter der Scheibe sehe ich das Gesicht einer alten Frau. Sie scheint mit mir zu sprechen, sie sieht mich an, und ihr Mund bewegt sich. Die Hand hat sie zur Faust geballt, und mit der Faust vollführt sie kreisförmige Bewegungen, als würde sie über die Scheibe wischen. Dabei bewegen sich ständig ihre Lippen.

Die spinnt komplett, denke ich, und lese weiter.

Ich schaue auf die Uhr an meinem Mobiltelefon. Abfahrt in fünfundzwanzig Minuten. Von hinten trampeln weitere Fahrgäste heran. Ich trinke ostentativ mein Bier, damit sie mich für einen Säufer halten und nicht näher kommen. Ich sehe zur Tür. Dahinter steht noch immer die Alte, und noch immer ist sie am Wischen und am Brabbeln. Ich kann gar nicht hinsehen, so grotesk ist der Anblick.

Mitten im Bericht über die deutsche Schach-Bundesliga kapiere ich. Ich schaue zur Tür. Die Alte steht noch immer da. Ich springe auf, laufe hin. Die Tür klemmt, ich muß mich anstrengen, um die beiden Flügel auseinanderzudrücken.

«Maria und Jesus, endlich, danke, vielen Dank! Die Tür ist nicht mehr aufgegangen! Die eine nicht und die andere nicht! Plötzlich ist sie zugefallen, Maria und Jesus, ich habe gerufen, aber der junge Mann hat sich nicht gekümmert! Niemand ist gekommen! Vielleicht hat jemand zugesperrt! Schon so lange…«

Ich stammle eine Entschuldigung und haste zu meinem Platz zurück. Zu meiner Erleichterung humpelt sie an mir vorbei nach hinten. Ich höre, wie ihr Klagen leiser und leiser wird. Eine Weile kann ich mich nur schwer auf den Artikel konzentrieren. Ich frage mich, wie es mir entgehen konnte, daß da eine alte Frau zwischen den Waggons steckt. Aber ich frage mich auch, wie sie es angestellt hat, sich da einzusperren. Ich mache die zweite Dose auf.

Als der Zug abfährt, ist der Waggon voll. Auch der Platz mir gegenüber ist besetzt. Eine dünne, blasse Frau um die Vierzig, die sich weder durch das Bier noch durch meine Miene hat abschrecken lassen. Mit dem schmalen Gesicht und der Brille und dem distanzierten Blick sieht sie aus wie eine katholische Fundamentalistin. Sie öffnet ein mitgebrachtes Plastikgeschirr, zieht eine Gabel heraus und beginnt zu essen. Ich sehe Nudeln in ihrem Mund verschwinden. Sekunden später riecht der ganze Waggon nach einer unerträglich intensiven Variante von Spaghetti Bolognese. Es ist ein wahrhaft gotteslästerlicher Gestank. Die Frau ißt ungerührt. Sie blickt über die Köpfe der Mitreisenden hinweg und kaut langsam.

Wenn das bis München so bleibt, geschieht ein Unglück, das weiß ich. Ich bin ein friedfertiger Mensch, aber auch ein Knecht meiner Idiosynkrasien. Schon jetzt fühle ich Mißmut gegen diesen Bauerntölpel da mir gegenüber, diese dumme Frau mit ihren stinkenden Nudeln. Ich ertrage diesen Anblick keine fünf Stunden. Ebensowenig wie die grölenden Stimmen der Kerle, die ein paar Reihen hinter mir lautstark über ihre Arbeitskolleginnen reden. Sie sprechen wüsten Dialekt, ab und zu hört man, wie sie miteinander anstoßen. Ich drehe mich um. Sie tragen karierte Hemden und schwenken tatsächlich Bierflaschen.

Ich starre in meine Zeitschrift. Ich muß jeden Absatz vier- oder fünfmal lesen, und auch dann habe ich den Inhalt noch nicht erfaßt. Meine Ohren krümmen sich gewissermaßen nach hinten, wo die Horde johlt, und meine Nase wächst nach vorne, um den Bolognesegestank zu erschnüffeln. Ich frage mich, was die Hexe hinzugerührt hat, das ist der reinste Höllenbrodem. Und sie ißt und ißt und ißt und schaut über mich hinweg.

In St. Pölten wird meine Hoffnung, ein Teil der Fahrgäste könnte aussteigen, enttäuscht. Der Waggon bleibt voll, die Kerle röhren weiter, die religiöse Fanatikerin mir gegenüber stellt das Essen ein und zieht sich dafür die Schuhe aus. Es reicht. Ich packe meine Tasche und meine Zeitschriften.

In der ersten Klasse finde ich zu meiner Freude einen Platz, der mir gefällt. Ich kann mich breitmachen. Beim Zugbegleiter zahle ich den Aufschlag. Bei der Bierbetreuerin, die ihr Wägelchen durch die Waggons rollt, bestelle ich eine Thai-Suppe. Ich esse und fühle mich wohl. Als die junge Frau noch einmal vorbeikommt, kaufe ich ihr eine Flasche Wein ab. Sie macht einen Scherz, ich erwidere etwas, wir lachen. Jetzt wäre alles gut. Wäre da nicht der Ohrwurm. Was ist das überhaupt für ein Lied?