Ein paar Männer in orangefarbener Arbeitskleidung setzen sich an den Stammtisch und beginnen, Karten zu spielen. Sie sind schon in sehr guter Stimmung, johlen und brüllen, donnern mit der Faust auf den Tisch, bisweilen ertönt ein peitschendes Lachen. Mir wird das zuviel. Ich hole den Discman aus dem Auto und setze die Kopfhörer auf.
Ich höre Foyer des Arts. Ich verehre Max Goldt, aber anders als die meisten Menschen, mit denen ich darüber gesprochen habe, verehre ich ihn nicht nur als Dichter, ich finde auch seine Musik zauberhaft.
Schneid mich aus dem Leib der Erde / Schneid mich raus und wirf mich weit / Wirf, auf daß ich ewig falle / Fallende, so heißt es doch, haben alle Zeit auf Erden / Und hören die herrlichste Musik.
Jemand tippt mir auf die Schulter. Es ist Johann, der Wirt. Ich setze die Hörer ab.
«Was hörst du denn da?«
«Ein Haus aus den Knochen von Cary Grant.«
Das stimmt zwar nicht, das Lied heißt Kaiserschnitt, Cary Grant kommt erst, aber ich freue mich über den Ausdruck auf Johanns Gesicht. Ich gebe ihm die Hand.
«DER THOMAS! Na! Was macht das Schach?«
Ich ringe mir ein paar Scherze ab, ich bin zu müde, um geistreich zu sein. Mit Johann habe ich vor zwanzig Jahren Blindschach gespielt. Das heißt, er mit Ansicht des Brettes, ich ohne Brett an einem anderen Tisch, ihm den Rücken zugekehrt. Wie man Züge notiert, also sie» beschreibt«, hatte ich ihm vorher beigebracht. Er rief mir seinen Zug zu, nachdem er ihn am Brett ausgeführt hatte, und ich rief meinen zurück, worauf er diesen am Brett ausführte. Wir spielten einen ganzen Abend an dieser einen Partie, er verlor, und am nächsten Tag erzählte er jedem Gast, es gebe da einen Dreizehnjährigen, der Schach spiele, ohne das Brett zu sehen.
Eine halbe Stunde später treffen nacheinander alle ein: Oma und Opa, Ivetta und Fritz, Tante Anneliese, meine Mutter und Gottfried, dazu ausnahmsweise sogar die vier Mailänder: Ricki und Livio, Lisa und Lonnie. Die Begrüßungsszenen, in denen auch die Wirtsleute eine nahezu gleichberechtigte Rolle spielen, dauern gut zehn Minuten, dann wird unter höflichem, aber doch herablassendem Grüßen nach allen Seiten der Tisch besetzt. Meine Familie hat die Angewohnheit, in Gasthäusern aufzutreten wie die Entourage des Zuckerkönigs, sie sind überzeugt, jedermann muß sich über ihren Besuch unbändig freuen. Es gefällt ihnen überdies, mit den Wirtsleuten per du zu sein. Sich mit einem Wirt zu duzen zeigt, daß man nicht irgendein dahergelaufener Gast ist. Ich meine, jede und jeder an diesem Tisch hat einen Platz in meinem Herzen, doch ich kann einfach nicht aufhören, mich über immer Wiederkehrendes zu wundern.
Plötzlich ist das Gasthaus voll. Kellnerinnen laufen in Tracht umher, Kinderstimmen erklingen, Hunde bellen, Gläser klirren, es riecht nach Rauch und Speiseöl. Meine Familie fragt nach Else und Stanislaus. Wahrheitsgemäß erkläre ich, Else wäre gern mitgekommen, aber mit dem Kleinen bedeutet das allzu großen Streß, da er ständig herumläuft. Sie wollen Neues über ihn wissen. Ich antworte ihnen ausführlich, denn man redet ja gern über sein Kind. Eltern, deren einziges Thema die Kinder sind, finde ich anstrengend, hier jedoch weiß ich, wie gern alle zuhören, also rede ich, bis die Getränke serviert werden.
Meine Oma fragt, ob ich im Sommer in Bibione Francesco guten Tag gesagt habe. Ich verneine, worauf sie ungehalten wird. Ich erkläre ihr, daß ich, wenn ich einmal fünf Tage allein Urlaub mache und es mich aus Aberwitz und nostalgischer Neugier ausgerechnet in einen unmondänen Ferienort an der Adria verschlägt, keine Lust habe, mich in dem Hotel vorzustellen, das sie zweimal im Jahr besuchen.
«Aber Francesco hättest du guten Tag sagen müssen«, sagt sie.
«Oma, warum soll ich in ein fremdes Hotel gehen und mich irgendeinem Angestellten vorstellen, nur weil ihr ihn kennt?«
«Francesco ist doch der DIREKTOR!«
«Oma, warum soll ich mich einem Hoteldirektor vorstellen?«
«Aber das ist doch ein Freund von uns!«
«Ich gehe also hinein und sage guten Tag, ich bin der Enkel der Familie Schneider aus Graz? Und was dann?«
«Dann hast du dich vorgestellt.«
«Oma, ich stelle mich aber keinem Hotelmenschen vor.«
Beleidigt erklärt sie, daß das blöd von mir ist, und weil sie gerade dabei ist, verrät sie mir, daß meine Frisur auch blöd ist. Daß ich eine Frisur habe, ist mir noch gar nicht aufgefallen.
Ich beuge mich zu meiner Mutter und erzähle ihr, daß Oma mit mir unzufrieden ist.
«Francesco sollst du guten Tag sagen?«ruft sie.»Dieser Schwuchtel?«
Das Essen kommt, allseits steigt die Laune, nur meine nicht, denn das Schnitzel ist zu dick. Wir sitzen im großen Saal, alle anderen Tische sind ebenfalls besetzt, ringsum schmaust das Landvolk, dementsprechend laut ist es, die Bewohner der Südsteiermark haben nämlich die Angewohnheit, sich ausschließlich schreiend zu unterhalten. Wohin man auch schaut, überall sieht man weit aufgerissene Münder und große Fleischstücke, die schnell in ihnen verschwinden. Die Unterhaltung an unserem Tisch wird wegen der Geräuschkulisse von Schmatzen und Brüllen und Geschirrgeklapper ebenfalls laut geführt, was aber niemanden zu irritieren scheint.
Eine Weile unterhalte ich mich mit Lisa und Lonnie. Sie ist 23, er 20, sie erzählen mir Geschichten aus dem Alltag in Milano. Eine Weile geht alles gut, aber dann wird ringsum schon so laut gesprochen, daß ich mithören muß. Arnold Schwarzenegger. Er hat der Stadt Graz seine Gunst entzogen, weil Grazer Politiker ihm die Ehrenbürgerschaft aberkennen wollten, nachdem er als Gouverneur von Kalifornien einen zum Tod Verurteilten nicht begnadigt hatte. Plötzlich scheinen alle am Tisch miteinander zu streiten, obwohl sie einer Meinung sind: Schwarzenegger hat es den dummen Grazer Politikern gezeigt. Schwarzenegger ist ein Held. Schwarzenegger ist toll. Vom Nebentisch drehen sich Fremde um und mischen sich ein: Jawohl, ganz recht, Schwarzenegger hat großartig gehandelt. Vom anderen Nebentisch ruft einer meinem Opa zu, er sei mit Arnie zur Schule gegangen. Mein Opa prostet ihm zu und lächelt sein feines David-Niven-Lächeln.
Ich erzähle meiner Mutter einen meiner Lieblingswitze, den vom Kindermörder. Sie wird von einem Lachanfall geschüttelt. Mein Opa weist sie zurecht, sie soll nicht so laut lachen, man muß sich mit ihr genieren. Sie nimmt es zur Kenntnis. Sie ist die älteste der drei Schwestern, sie war die erste, die ein Kind bekommen hat, sie mußte von Anfang an mehr einstecken, und sie scheint sich daran gewöhnt zu haben. Ich verstehe es trotzdem nicht. Wenn irgend jemand mit mir so redet, werde ich unangenehm.
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Meine Oma nimmt mich wieder aufs Korn. Sie wünscht sich, daß ich in die Küche des Gasthauses gehe und die alte Wirtin begrüße.
«Oma, ich möchte lieber nicht.«
«Jetzt geh schon und sag guten Tag.«
«Es ist mir nicht recht. Was soll ich da in der Küche, sie hat bestimmt viel zu tun.«
«Für das Grüßen ist immer Zeit. Geh jetzt, sie freut sich!«
«Ana happa-happa-happa, brm-afa«, murmle ich und drehe mich weg. Das ist ein Zitat. Aus den Sopranos. Das ist wie der Glaube an Gott, das hilft, ich habe in diesem Moment große Kunst bei mir. Ich bin nicht allein, nicht einmal in Frauenkirchen muß man allein sein.
Zum Nachtisch wird wieder mit Wein angestoßen. Ich muß leider Auto fahren und darf nichts trinken, so eine Flasche in zehn Minuten wäre jetzt genau das richtige, zumal die Schwarzenegger-Diskussion von neuem eröffnet wurde und sich von einem Tisch zum anderen ausbreitet. Niemand im Saal, der keine Meinung hat, kaum einer, der nicht stolz ist auf Schwarzenegger, hier reden ca. 300 Leute über Schwarzenegger. Ich lache hysterisch.
Ivetta stößt mich in die Rippen und weist mit einer Kopfbewegung nach rechts. Ich sehe Bärbel bei meinen Großeltern stehen. Bärbel gehört auch zum Gasthaus, sie ist ein paar Jahre älter als ich und hat mit mir als Kind gespielt. Ich habe sie lange nicht gesehen. Wir geben uns die Hand. Ich wende mich wieder Lisa zu. Vom Gespräch von Bärbel mit meiner Oma nehme ich Satzfetzen auf: Wien… zweijähriger Sohn… Schriftsteller… vier Bücher… großer Erfolg… Nach einer Weile stößt mich Ivetta zum zweiten Mal an.