«Bärbel freut sich so, dich wiederzusehen! Rede mit ihr, sie freut sich!«
Als der Betrieb etwas nachläßt, kommen Johann und Gertraud zum Tisch. Sie stehen hinter meinen Großeltern und reden mit ihnen. Nach und nach werde ich in das Gespräch hineingezogen. Gertraud sagt:»Und da sitz ich im Fernsehzimmer und da schaue ich Nachrichten und da sehe ich einen und da denke ich mir den kenn ich ja WARS DER THOMAS. Ich rufe den Hansi HANSI kommschnell und dann sehen wir den Bericht und das ist schon toll. THOMAS, WIR FREUEN UNS JA SO ÜBER DEINEN ERFOLG!«
Ich lächle das Lächeln, das ich vom größten Starautor der westlichen Welt gelernt habe, aber hier hilft das nichts.
Ein Mann vom Nebentisch, Typ Metzgergesicht, mischt sich ins Gespräch, ich höre nicht hin, er redet mit Gertraud. Es fallen die Worte Schriftsteller, Fernsehen, Bücher.
«Ein Schriftsteller?«ruft der Kerl. Er wendet sich an mich.»Was schreibst du denn?«
Ich tue so, als hätte ich nicht gehört. Meine Mutter ruft:»Romane!«
Ehe ich aufbreche, setze ich mich noch einmal zu meinen Großeltern. Meine Oma holt ein Exemplar von Wie man leben soll aus der Handtasche und bittet mich, es zu signieren. Für wen es ist, will ich wissen. Sie sagt, ich soll schreiben, sie diktiert.
«Für Herrn Primarius Doktor Weinstödl, mit innigem herzlichem Dank für die Pflege — was hast du denn, schreib weiter —, mit innigem herzlichem Dank für die Pflege, die Sie meiner Großmutter Judith Schneider im Krankenhaus haben angedeihen lassen. — Was ist denn? Schreib doch! Ja, genau so. Unterschrift. Leserlich! Hochachtungsvoll Thomas Glavinic, Schriftsteller. Dazuschreiben! Ja! So ist’s recht.«
Neun
Als ich aufstehe, ist Else schon weg. Ehe sie mit Stanislaus zum Kinderarzt gegangen ist, hat sie mir eine Thermoskanne Kaffee vorbereitet. Ich schicke ihr ein SMS: Danke! Guten Morgen, LD. Dann lese ich die eingegangenen Kurznachrichten. Daniel schreibt, ich solle mir das neue Volltext kaufen, da sei ein amüsanter Artikel drin. Gerfried Göschl, ein Jugendfreund, der gerade auf dem Everest war, sendet mir den ihm passenden Termin für ein Treffen in seinem Heimatort. Und der Prinz schreibt:
du teufel hast mich wieder betrunken gemacht
Am Vorabend waren wir bei Umar Fisch essen. Das machen wir einmal im Monat, und dann wird Wein getrunken. Am Prinzen gibt es ein interessantes Phänomen zu beobachten: Wenn er betrunken ist, verliert er — je nach Grad der Alkoholisierung mal stärker, mal schwächer — die Kontrolle über seine Gesichtsmuskeln. Der Mund geht langsamer auf, der Blick schwenkt langsam zur Seite, und die Augen sind glasig. Das ist nichts Außergewöhnliches, passiert bestimmt vielen, aber nur an ihm bemerke ich es so deutlich. Man sieht ihn an und denkt sich, der Mann muß den ganzen Tag mit Trinken verbracht haben. Und in Wahrheit hatte er gerade mal zwei Gläser.
Gestern ist er wieder mit Hund gekommen. Eigentlich fürchte ich mich vor Hunden, sie bellen, einige beißen. Wenn ich auf der Straße den tätowierten Muskelprotz aus dem Nebenhaus sehe, dessen Kampfhund nicht einmal einen Maulkorb trägt, vergesse ich allen mühsam anerzogenen Humanismus und stelle mir vor, wie beide mit Genickschuß niedergestreckt werden, Hund und Herrchen. Ich ermahne mich sofort, böses Tun beginnt bei bösen Gedanken, und fühle mich schlecht. Aber Hunde und ich, das funktioniert nicht. Bloß Baldur, der ist in Ordnung. Ich weiß nicht, welcher Rasse er angehört, der Prinz sagt es mir jedesmal, aber ich merke es mir nicht. Jedenfalls halte ich schon mal die Leine, wenn der Prinz zur Toilette muß, und fühle mich dabei nicht allzu verunsichert.
Na ja, eigentlich fühle ich mich nicht gar so schlecht. Wenn ich mich bei meinen Genickschußphantasien ertappe, meine ich. Ich weiß, es gehört sich nicht, aber in gewisser Weise ist es nicht mehr als seelische Notwehrüberschreitung. Trotzdem bereitet es mir Unbehagen. Ich werde das Gefühl nicht los, ich könnte irgendwann, irgendwie in eine Lage kommen, in der ich mich vergesse, was zur Folge hätte, daß ich entweder im Gefängnis oder im Krankenhaus aufwache (letzteres ist bedeutend wahrscheinlicher).
Ich mache mich fertig. Überlege, ob ich alles habe. Die Winterreifen liegen bereits im Kofferraum, ich stecke die Papiere ein. Mir macht es keine Freude, zur Werkstatt zu fahren, aber es muß erledigt werden, sonst kann ich mir von Else einiges anhören.
Als ich in den Hausflur trete, stehen vor der Nachbarstür zwei Frauen. Hintereinander, die eine, weit kleinere hat der anderen die Hände auf die Schultern gelegt, als wollten sie wie die Kinder Eisenbahn spielen. Die Kleine sagt zu mir:
«Könnten Sie mir bitte helfen? Der Schlüssel der Dame sperrt nicht!«
In diesem Moment ist mein Hirn ausgeschaltet. Nur so ist zu erklären, weshalb ich nicht verstehe, was ich vor mir habe. Artig gehe ich zu den beiden, nehme den Schlüssel, versuche vergeblich, ihn ins Schloß zu schieben. Noch immer arglos, betrachte ich ihn.
«Das ist nicht der falsche Schlüssel, das ist die falsche Wohnung. Er gehört zu Wohnung 1c, das hier ist 18. Wir müssen ganz nach unten.«
Sage es blöde lächelnd, hebe den Blick, schaue die eine an, schaue die andere an — und mache einen kleinen Schritt rückwärts. Es ist die Chinesin aus dem Keller. Stumpf grinst sie mich an. An ihrer Backe eine Platzwunde, an ihrer Stirn eine Platzwunde. Nur durch die Hilfe der kleinen Frau hinter ihr kann sie sich auf den Beinen halten. Der Alkoholdunst, den sie verströmt, ist unglaublich.
«Was ist denn da passiert?«
«Sie lag ein paar Häuser weiter auf dem Gehsteig«, flüstert die kleine Frau.»Sie sagt, sie wohnt im zweiten Stock.«
«Da täuscht sie sich.«
Ich zeige ihr den Schlüssel, auf dem 1c steht. Dabei halte ich ihn mit spitzen Fingern. Er ist ekelhaft warm, außerdem fürchte ich in solchen Situationen eine wie auch immer vor sich gehende Ansteckung mit Hepatitis. Ich helfe der kleinen Frau, die Chinesin in den Lift zu schieben, vermeide jedoch jeden engen Kontakt. Schweigend fahren wir hinunter. Ich sperre die Wohnung auf.
«Sollen wir nicht den Notarzt rufen?«frage ich.
«Sie sagt, sie will keinen.«
«Kennen Sie sie?«
«Nein.«
Unschlüssig warten wir vor der offenen Tür. Die Säuferin blickt mich traurig lächelnd an, als sei ich Ursache ihres Kummers, wie einen Verflossenen, aber ich bin sicher, sie hätte keinen anderen Ausdruck, wenn hier statt mir ein Hirsch stehen würde.
«Kommen — kommen Sie allein zurecht?«frage ich die kleine Frau.
«Ja.«
«Ich werde trotzdem anrufen«, sage ich.
Ich bin froh, mich verabschieden zu dürfen, betrunkene Frauen putzen und verbinden liegt mir nicht. Auf dem Weg zum Auto wähle ich die Nummer des Rettungsdienstes. Der Telefonist fragt gleich, ob die Patientin nach einem Arzt verlangt hat.
«Nein, sie hat sogar gesagt, sie will keinen, aber so wie sie aussieht, sollte…«
«Dann können wir uns die Fahrt sparen. Es ist gesetzlich verboten, jemanden gegen seinen Willen ärztlich zu behandeln.«
«Die Frau ist doch unzurechnungsfähig in diesem Zustand.«
«Das hilft uns nicht. Nur die Polizei darf anordnen, daß jemand behandelt wird.«
«Was heißt das? Wenn ich mir betrunken den Kopf einschlage und aufgrund der Verwirrung darauf bestehe, keinen Arzt zu holen, muß dann meine Frau die Polizei anrufen?«