«So ungefähr, ja. Allerdings besteht in diesem Fall die…«
Ich bedanke mich und lege auf. Kurz überlege ich, wirklich die Polizei anzurufen. Ich entscheide mich dagegen. Die kleine Frau — wer war sie bloß, wer war sie — hat ruhig und verständig gewirkt. Sie wird tun, was zu tun ist. Aber wer ist sie? Wer sammelt denn Betrunkene von der Straße auf und bringt sie ins Bett?
Auf dem Weg zur Werkstatt male ich mir verschiedene Szenarien aus, eines wilder als das andere. Möglicherweise habe ich die Chinesin in der Obhut einer wahnsinnigen Mörderin belassen. Vielleicht stiehlt die kleine Frau auch nur den Schmuck. Vielleicht mißbraucht sie die Chinesin sexuell. Vielleicht ist sie wirklich total abgedreht und zerschneidet ihr die Wäsche. Alles ist möglich, ich halte prinzipiell immer und überall alles für möglich.
Den Wagen stelle ich auf dem Parkplatz der Werkstatt ab. Im Büro finde ich zwei rauchende Männer um die Fünfzig vor sowie einen Schäferhund, der in einer Ecke liegt und mit dem Schwanz auf eine schmutzige Decke unter sich klopft. Die Luft ist schlecht, der Zigarettennebel erfüllt den kleinen Raum.
«Würden Sie mir die Winterreifen aufstecken?«frage ich freundlich.
«Sicher«, sagt der mit der Halbglatze.»Mit Felgen oder ohne?«
«Felgen…?«wiederhole ich gedehnt.
«Na, sind die Felgen drauf?«
«Ja hm… die Felgen… also ich weiß nicht…«
Die beiden Männer wechseln einen Blick. Ich denke nach. Was heißt das, was will der Kerl? Natürlich steckt da etwas an den Reifen, dieses Metallzeug, das ich als Felgen bezeichnen würde. Aber wer weiß, vielleicht nennt man das eben nicht Felgen? Denn welchen Sinn sollte der Reifen ohne diese» Felge «haben? Wer bringt denn nur den Gummi? Geht das überhaupt? Also ist mit Felge möglicherweise etwas anderes gemeint als das, was ich mitgebracht habe.
Mein Bemühen, diesen inneren Zwiespalt den beiden Männern begreiflich zu machen, scheitert. Wieder wechseln sie einen Blick.
«Na, fahren Sie den Wagen in die Halle.«
Ich beeile mich, rauszukommen. Starte den Wagen, male mir aus, was geschieht, wenn ich im Übereifer, die Blamage wettzumachen und mein fahrerisches Können zu zeigen, einen Parkschaden verursache. Aber alles geht gut. Der Mann wirft einen Blick auf die Reifen im Kofferraum.
«Na, sind ja dran.«
Ich lächle ihm zu. Er lächelt zurück, aber seine Augen lächeln nicht mit. Wir gehen zurück ins Büro.
«Sollen wir die Reifen auch wuchten?«
«Wuchten?«
«Wenigstens die Vorderreifen.«
Ich schaue ihn an. Mir wird heiß. Ich habe keine Ahnung, was wuchten bedeutet, und es ist mir auch völlig schnuppe. Ich interessiere mich für Autos seit jeher einen Dreck, ich verabscheue diese Werkstattstimmung, den Gestank nach Öl, den Schmutz, die Knechte in den blauen Overalls, diese Atmosphäre von Ungeist und Trostlosigkeit. Aber — ich will dem Mann mit der Halbglatze nicht auch noch erklären, daß ich nicht weiß, was es mit seinem Wuchten auf sich hat.
Ich bitte darum, die Vorderreifen zu wuchten. Er blickt wieder seinen Kollegen an, der stumm rauchend gegen einen Schreibtisch gelehnt danebensteht, und schreibt den Auftragsschein. Ich kündige an, den Wagen in zwei Stunden abzuholen.
Ich bin hungrig. Der Naschmarkt ist nah. Ich will aber nicht zum Inder, ich will nicht, ich möchte nicht jeden Tag indisch essen. Seit ein paar Wochen macht mir meine Verdauung Beschwerden, hier kneift es und da sticht es, und ungefähr fünfmal am Tag fürchte ich, einen Krankenwagen rufen zu müssen, weil ich in diesem Stechen einen sich ankündigenden Darmdurchbruch vermute. Deshalb einen Monat lang kein Chicken Methi.
Doch wo soll ich dann essen? Jetzt?
Ich gehe ins Umar. Esse Goldbrasse mit Chilinudeln, wie am Abend zuvor mit dem Prinzen. Trinke Weißwein dazu. Es ist gut, aber ich werde das Gefühl nicht los, der letzte Überlebende einer Party zu sein. Ich betrachte den Nebentisch, jenen, an dem wir am Vorabend gegessen haben.
Erst nach dem Essen regt sich in mir der Gedanke, ob Chilinudeln ernährungstechnisch die ideale Alternative zu indischem Essen sind. Aber da ist es eben schon zu spät. So setze ich mich ins Amacord, um einen großen Grappa zu nehmen. Ich trinke noch zwei, dann wird es Zeit, den Wagen abzuholen.
«Welches Modell war es?«fragt der Mann mit der Halbglatze.
«Hmmm«, sage ich.
Ich stehe kurz vor einem Zusammenbruch. Ich frage mich, wie es möglich ist, daß ich mir das Modell des Autos nicht merke. Ich recke den Kopf, spähe durch die Scheibe nach draußen.
«Der da — der weiße! Haha!«
«Ja, aber welches Modell?«
«Ach Himmel, welches Modell, ja wissen Sie, es ist eigentlich der Wagen meiner Frau. Und selbst die hat ihn von ihrer Mutter. «Trottellächeln.»Ich fahre so selten damit, daß ich gar nicht weiß, welches…«Räuspern, Kinnkratzen. Verlegener Blick zum stumm rauchenden Kollegen.
«Wegen dem Schlüssel frage ich. Hier liegen zehn Schlüssel. Welches Modell?«
«Ich glaube… ein Mitsubishi. Ja?«
«Mitsu… hier liegt einer. Mit einem Anhänger, auf dem Gunther steht.«
«Das ist er! Gunther, das ist mein Schwiegervater, hehe. Hoho!«
Unbeschreibliche Blicke. Mit einem leisen Seufzer gibt mir der Mann den Schlüssel, schiebt mir die Rechnung über das Pult. Ich bezahle. Ich stopfe mir die Rechnung und die Scheine in irgendwelche Taschen. Der Hund bellt ohne sichtlichen Grund.
Am Abend fahre ich mit dem Taxi in die Innenstadt. Heidi List, die Freundin von Thomas Maurer, wird 35. Ich betrete ein Lokal, das sehr schick wirkt und in dem ich mich auf Anhieb deplaziert fühle. Es gibt nur vier Tische. Ich sehe mich um, erkenne niemanden. Ein Kellner mit dunkler Hautfarbe tritt zu mir, ich halte ihn für einen Srilankesen, aber wer weiß, vielleicht stammt er auch aus Pakistan oder Indien oder sonstwoher. Was ich will. Er stellt die Frage grob, ich bin geneigt, es auf Sprachschwierigkeiten zu schieben, denn sein Deutsch ist kaum verständlich. Aber da ist auch noch etwas anderes — der kleine Mann, er ist einen Kopf kleiner als ich, hat eine unfreundliche Ausstrahlung.
«List«, sage ich.»Ein Tisch, der auf den Namen List bestellt ist.«
«Brda-brda schsch schhh mh?«
«Äh — wie?«
«Brmt! Brutt! Hai!«Er funkelt mich böse an.
«Bitte was? Ich suche List! List! Oder Maurer! Den Tisch! Bestellt!«
«Brutsta! Brutsta! Hai!«schreit er.
Ich sehe mich hilflos um. Zwei der vier Tische sind besetzt, aber die jungen Leute ringsum verfolgen das Schauspiel unbeeindruckt. Vielleicht haben sie dasselbe erlebt.
«Hören Sie, ich weiß nicht, ob ich hier richtig bin. Ist hier kein Tisch auf den Namen List reserviert?«
«Wolln S’ Brutsts Feia!«donnert er mich an.
«Brutsts? Feia? Geburtstagsfeier? Jawohl! Ja! Geburtstagsfeier! Hahahaha!«
Wortlos dreht er sich um und verschwindet nach hinten. Ich fasse das als Zeichen auf, ihm zu folgen. Richtig, ich betrete ein Hinterzimmer, in dem ein großer Tisch steht, um den zehn, fünfzehn, achtzehn Stühle angeordnet sind, wie ich schnell zähle, genau die Größe einer Gesellschaft, die ich nicht mag. Ich bin der dritte Gast. Eine Frau und ein Mann sitzen schon da. Wir begrüßen uns. Ich vollführe einen Indianertanz rund um den Tisch, weil ich keinen Platz finden kann, der mir zusagt. Sie beobachten mich. Ich setze mich schließlich ihnen gegenüber. Als das Schweigen zu drückend wird, mache ich einen Scherz. Sie scherzen zurück, wir reden über das abwesende Geburtstagskind (sie sagen ständig Geburtstagskind, nicht ich).
Allmählich werde ich durstig, was nicht nur an den Dutzenden Flaschen liegt, die in den Vitrinen ringsum ausgestellt sind. Der Kellner steht im Gang zwischen Lokal und Hinterzimmer und schaut böse, nicht mißmutig, sondern böse. Ich winke ihm. Nach einiger Zeit bequemt er sich herbei.