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Von draußen höre ich die Stimme Ursels, meiner Schwiegermutter, die mit Stanislaus spricht. Sie sind nebenan in seinem Zimmer, offenbar wird er gewickelt. Ich habe ihr schon einige Male gesagt, sie soll dabei bitteschön die Tür zumachen bitte, wenn ich noch im Bett bin, aber das vergißt sie manchmal. Gut, heute ist das egal, denn mich hat nicht Stanislaus’ Krähen geweckt, sondern der gewissenlose Nachbar. Nur holt mich die Unterhaltung zwischen meiner Schwiegermutter und Stanislaus noch weiter aus dem Schlaf heraus.

Wieso ist mir so schlecht? Was war gestern los? Am Nachmittag habe ich den Professor getroffen und, wie immer in seiner Gesellschaft, keinen Tropfen getrunken. Am Abend das Treffen mit Beate, einer weiteren Ärztin, die mir damals auf meinen Artikel hin geschrieben hatte. Anders als Frau Thallner hat sie bereits einen Mann, sie hat sogar zwei kleine Kinder, unsere Treffen sind also relativ ungefährlich. Generell finde ich zwar, Sex ist die netteste Art, sich kennenzulernen, aber da wir beide mit anderen verheiratet sind, fällt das aus. Wir reden über meine Hypochondrie, und ob der Schmerz hier und jener da etwas Gefährliches sein könnte. Die Frau hat eine Engelsgeduld.

Ich weiß mit Sicherheit, daß ich gegenüber Beate keine Annäherungsversuche unternommen habe, aber die moralische Last, die Angst, die ich fühle, all das scheint aus dieser Richtung zu kommen: Du hast möglicherweise etwas getan, was du lieber hättest bleibenlassen. Womöglich habe ich — jemanden geschlagen? Läutet bald die Polizei?

Rekapituliere: Ich muß etwa zehn Glas Wein getrunken haben, vielleicht elf, höchstens aber zwölf. Demnach so eineinhalb Liter. Das ist viel, aber ich hatte schon mehr, ohne daß ich mich danach so elend fühlte wie heute. Was ist los? Habe ich womöglich einen Leberschaden? Am liebsten würde ich gleich wieder Beate anrufen, aber ich traue mich nicht, sie hält mich ohnehin schon für total plemplem.

Ich überlege, ob man mit 33 schon einen Leberschaden haben kann, wenn man so trinkt wie ich. Ich versuche mich zu beruhigen: Du hast zwei Wochen lang nicht einmal einen Schnaps nach dem Essen getrunken, gar nichts hast du getrunken, du trinkst nicht so viel, du trinkst ja fast nur, wenn du ausgehst. Du hast keinen Leberschaden.

Aber wieso fühle ich mich so schaurig? Vielleicht sollte ich doch Beate anrufen.

Der Nachbar beginnt wieder zu bohren. Ich höre draußen Elses Stimme, dann die von Urseclass="underline" »Will der Stanislaus mit der Oma spazierengehen?«

Ich ziehe mir das Kissen über den Kopf. Nach wenigen Sekunden tauche ich wieder auf, denn ich bekomme keine Luft, und mir wird noch übler.

In Unterhosen, zum Anziehen bin ich zu schwach, Ursel muß den Anblick ertragen, gehe ich hinaus.»Oh!«sagt Else. Ich winke ihr zu, dann sperre ich mich in der Toilette ein. Um mich dreht sich alles.

Danach mache ich mich zitternd auf den Weg ins Badezimmer, um mir die Zähne zu putzen. Else schaut mich an und fragt, ob es mir nicht gutgeht. Ich schüttle den Kopf. Sie drückt mir mein Mobiltelefon in die Hand und sagt, meine Mutter hat angerufen und von ihren starken Blähungen nach dem Essen erzählt. Ich nicke nur und gehe ins Bad. Aus dem Apothekenschrank hole ich mir Kohletabletten. Ich nehme vier. Gerade als ich mich ins Bett lege, beginnt der Nachbar wieder zu bohren.

Allmählich verstehe ich, was mit mir los ist. Stanislaus hat mich mit der Darmgrippe angesteckt, die er vor zwei Tagen hatte. Das ist immer so: Er fängt sich ein Virus ein und ist einen Tag lang krank, dann steckt er uns an, und wir leiden eine Woche. Wenigstens weiß ich jetzt, warum es mir so elend geht, ich habe keinen Leberschaden, ich habe eine schlimme Darmgrippe und einen Kater.

Per SMS frage ich bei Beate nach, ob sie auch krank ist. Ist sie nicht, aber ihr geht es vom Wein schlecht. Ich denke mitleidig an sie, die Arme muß verkatert zwei Kleinkinder betreuen. Ich nur eines, nämlich mich.

«Wenn der Stanislaus sich nicht anziehen läßt, können wir nicht spazierengehen!«ruft Ursel streng.

Vorsichtig strecke ich mich aus. Auf dem Bauch kann ich nicht liegen, mir wird sofort übel. Ich liege auf dem Rücken und warte. Daß es vorbeigeht. Daß es besser wird.

Ich muß eingedöst sein. Ich erwache vom Klingeln des Handys, meine Mutter.

«WAS LESE ICH DA, DEIN FREUND KRIEGT SCHON WIEDER EINEN PREIS?«

«Was?«

«Steht in der Zeitung! Kriegt den Adenauer-Preis!«

«Ja, ich weiß. Ist doch schön.«

«WAS BRAUCHT DENN DER NOCH EINEN PREIS? Wie viele Bücher hat der denn schon verkauft?«

«Über 130.000. Aber…«

«HUNDERTDREISSIGTAUSEND? Hat der nicht schon genug verdient mit seinem Buch?«

«Was willst du denn, es ist doch wunderbar, wenn mal ein gutes Buch ausgezeichnet wird… nicht immer nur dieses träge Zeug, das niemand liest… ja, sein Buch verkauft sich toll, aber wieso sollte man ihm deshalb keinen…

«WANN SCHREIBST DENN DU MAL SO WAS?«

«Wie bitte?«

«WANN SCHREIBST DENN DU MAL EIN BUCH, DAS SO EINEN ERFOLG HAT?«

«Ich weiß nicht, hm.«

«WÄRE NICHT SCHLECHT!«

«Ganz recht, ja, wäre nicht schlecht. Du, ich muß jetzt aufhören.«

«TSCHÜS!«

Es gelingt mir, wieder einzuschlafen. Auch diesmal ist es das Handy, das mich weckt. Daniel beschwert sich über den Blödsinn, der über ihn geschrieben wird.

«Was genau regt dich auf?«

«Na die wollen schreiben wie ich BIN! Die wollen was über mich schreiben als PERSON verstehst du als MENSCH wie ich bin wollen sie ihren Lesern vermitteln und da schreibt einer ich sei der SCHRIFTSTELLER-SCHLAKS! Also bitte bin ich schlaksig?«

Um ihn aufzuheitern, erzähle ich ihm vom Anruf meiner Mutter. Er will es mir zuerst nicht glauben, aber dann fällt ihm ein, daß ich niemals lüge. Ich verabschiede mich und schlafe weiter.

Als ich wieder aufwache, fällt mir ein, wovor ich mich schon die ganze Zeit so fürchte. Es ist nicht die Polizei. Oder zumindest nicht so sehr, denn ich kann mich an keinen Streit und keine Rauferei erinnern. Nun, das will nicht viel heißen, vielleicht habe ich wirklich irgendeine Nase gebrochen, aber dagegen spricht, daß ich unverletzt bin, und das wäre ich bestimmt nicht, wenn ich mich mit jemandem angelegt hätte. Nein — ich habe Angst, vor dem Schlafengehen um drei Uhr früh noch Mails geschrieben zu haben.

Ach Gott. Was habe ich geschrieben? Wem?

Es passiert mir immer wieder. Ich weiß, ich sollte es nicht tun, und dennoch setze ich mich im Zustand erheblicher Beeinträchtigung durch Alkohol an den Computer. Sentimental, aggressiv, selbstmitleidig, oberschlau, einmal etwas davon, einmal alles zusammen. Dann schreibe ich Mails an Menschen, denen ich in solchem Zustand auf keinen Fall schreiben sollte. An alte Freunde, die ich lange nicht gesehen habe. Oder an alte Freunde, mit denen ich schon seit langer Zeit zerstritten bin und die ich in nüchternem Zustand nie wieder sehen will.

Wem habe ich gestern was geschrieben?

Ich muß wieder zur Toilette. Vorne wird es allmählich besser. Auf dem Weg zurück ins Schlafzimmer komme ich am Arbeitszimmer vorbei, der Computer ist eingeschaltet, ich könnte meine Mails abrufen. Wenn ich Sonderbares ausgeschickt habe, ist damit zu rechnen, daß ich auch schon Antwort bekommen habe. Na, und dann wüßte ich es. Was ich so geschrieben habe und wem.

Aber ich glaube, ich will das nicht wissen, nicht jetzt.

Eine Weile versuche ich zu lesen, einen Roman von Knut Hamsun. Mir wird schwindlig. Ich bekomme Fieber. Ich habe schon darauf gewartet, denn bei Infektionen fiebere ich schnell. Ich weiß nie, ob das ein gutes oder schlechtes Zeichen ist, ob es bedeutet, daß mein Immunsystem gut oder schlecht arbeitet. Im Zweifelsfall fürchte ich mich.