Eine Weile geht alles gut. Ich sitze auf meinem Platz und lese. Ab und zu wirft mir die Frau einen mißtrauischen Blick zu. Inzwischen ist sie von mir abgerückt. Ich merke, sie würde sich gern auf einen anderen Platz setzen, hat aber offenkundig ähnliche Höflichkeitsbedenken wie ich zuvor. Bei mir liegt die Sache nun schon anders, ich würde gern weit weg von diesen Leuten sitzen, die mich anstarren, und ich hätte keine Probleme mehr damit, sie zu kränken. Aber ich würde es nicht schaffen, meine Sachen zusammenzupacken. Ich brauche alle Kraft für meine Konzentration darauf, nicht einem völligen Zusammenbruch zu erliegen. Was für einen Höllenvirus habe ich mir da eingefangen?
Es geht wieder los. Ich schaffe es gerade noch zur Toilette. Fünf Minuten später sieht es darin schlimm aus. Ich zittere, ich stinke nach Schweiß. Als ich denke, es ist okay, und hinausgehen will, merke ich im letzten Moment, daß es keineswegs okay ist.
Ich bleibe eine halbe Stunde. Halb und halb bekomme ich mit, wie der Zug in Mürzzuschlag hält, ich habe das Gefühl, ich werde in dieser Toilette sterben.
Kurz vor Bruck an der Mur unternehme ich einen weiteren Versuch, zu meinem Platz zurückzukehren. Der Zug schaukelt, ich bleibe auf halbem Weg stehen, die drei Fahrgäste sehen mich betreten an, bei ihnen steht der Zugbegleiter.
«Ist Ihnen nicht gut?«ruft er.
Ich deute mit den Händen, mir ist nicht gut.
«Aha!«ruft er, und ich drehe wieder um.
In Graz nehme ich mir ein Zimmer im Hotel Ibis, gegenüber dem Bahnhof, weiter hätte ich es nicht geschafft. Ich lasse die Jalousien runter, gehe zur Toilette, kotze, lege mich ins Bett. Das Fieber steigt wieder, ich döse vor mich hin. Es geht mir ein wenig besser. Kurz darauf wird es wieder schlimmer. So schlimm, daß ich meine, es kann nicht so weitergehen. Ich mache einen Rundruf bei allen Grazer Verwandten und Freunden, ob sie einen Arzt wüßten, der um diese Zeit — es ist bereits sechs Uhr abends — noch da ist. Meine Mutter weiß einen, in Eggenberg, einem trostlosen Randbezirk. Als sie dort gewohnt hat, war er ihr Hausarzt. Nett ist er, sagt sie. Ich rufe mir ein Taxi und bitte den Chauffeur, langsam zu fahren.
Im Wartezimmer riecht es nach Schweiß und Zigarettenrauch. Es ist schäbig, am liebsten würde ich gleich umdrehen. In den Ecken Schmutz, die Einrichtung stammt aus den fünfziger Jahren, die Stühle wackeln, und dem Tisch sieht man an, daß er nach dem Abbrechen eines Beins schief zusammengeleimt worden ist. Die Zeitschriften darauf sind eineinhalb Jahre alt und schmierig, mir wird beim Gedanken, sie anzugreifen, wieder übel.
Ich sage der Sprechstundenhilfe, ich sei der, der vorhin angerufen habe, und bei mir sei es eine sehr akute Angelegenheit. Sie bittet mich, Platz zu nehmen. Ich betrachte die übrigen Wartenden, es sind ungefähr zwanzig. Da und dort sitzt eine verschleierte Frau. Bei einer sind nur die Augen zu sehen, sie trägt Burka. Die meisten sind aber Männer, sie husten, stöhnen, reiben sich die Hände. Ich bin der einzige, der einigermaßen europäisch aussieht. Vielleicht ist das der Grund dafür, daß ich bald drankomme. Vielleicht hat mir die Sprechstundenhilfe auch angesehen, daß es wirklich eine akute Sache ist.
Die Praxis ist unterteilt in Kojen. In einer davon muß ich mich auf eine Liege legen und warten. Als Trennwand hängt an den Seiten ein nicht sehr sauberer Plastikvorhang. Links und rechts von mir flüstern Menschen. Der Arzt ist gerade in einer vierten Koje beschäftigt. Der Vorhang dort ist schlecht zugezogen, und ich sehe die dicken weißen Oberschenkel einer alten Frau.
Der Arzt kommt zu mir. Ungefähr fünfundsiebzig. Ich erkläre ihm, was mir fehlt. Er beginnt an meinem Bauch herumzudrücken.
«Tut das weh?«
«Ih! Ih! Na ja!«
«Und das?«
«Ah! Ih! Wissen Sie, ich bin empfindlich.«
Er macht eine besorgte Miene.
«Wie lange, sagen Sie, haben Sie das schon?«
«Das erste Mal war vor über einer Woche. Ich dachte, es sei schon vorbei, aber…«
Er nickt, schaut mich traurig an und sagt:
«Ich muß Sie ins Spital überweisen. Es ist der Blinddarm.«
«Wie bitte?«
«Ja, ja.«
«Aber das tut doch weh.«
«Ihnen tut es ja auch weh.«
«Nein, tut es nicht! Ich bin nur empfindlich!«
«Aber sicher tut es Ihnen weh. Ich werde wohl wissen, wann es Ihnen weh tut. Lassen Sie nur, ich kenne mich da aus, ich bin ausgebildeter Anästhesist.«
Er geht hinaus, und nun hört die gesamte Praxis:»RUFEN SIE EINEN KRANKENWAGEN! ICH HABE DA DRINNEN EINEN MIT EINEM AKUTEN BLINDDARM!«
Der Arzt untersucht in den Nachbarkojen weitere Patienten. Ab und zu höre ich Sätze wie HOFFENTLICH KOMMEN DIE BALD und NICHT LUSTIG SO WAS. Als er wieder einmal in seinem schmuddeligen grauen Kittel an meiner Koje vorbeisegelt, halte ich ihn auf.
«Sagen Sie, wie kann man einen akuten Blinddarm…«
«Hören Sie! Das ist ein schleichender Durchbruch. Deshalb ist Ihnen schlecht!«
Ich werde von den Rotkreuzhelfern auf einer Trage durch das Wartezimmer hinausgeschleppt. Die Wartenden machen Platz. Ein Dutzend dunkler Augenpaare, die mich anstarren. Im Wagen bestehe ich darauf, mich hinzusetzen, weil mir im Liegen bestimmt noch mehr übel würde.
«Tut es nicht zu weh im Sitzen?«fragt die Sanitäterin.
«Mir tut überhaupt nichts weh«, antworte ich.
«Ihnen tut nichts weh?«fragt sie ungläubig.
Ich schüttle den Kopf. Ich sehe sie an. Sie ist ziemlich hübsch.
«Was meinen denn Sie«, frage ich,»kann das mit dem Blinddarm zu tun haben? Wenn mir nur übel ist, aber nichts weh tut?«
«Ich weiß nicht«, sagt sie vorsichtig,»gehört habe ich das noch nie.«
Bei der Aufnahme im Krankenhaus stehe ich zwischen zwei Sanitäterinnen, während eine Frau hinter dem Pult meine Daten abfragt. Zum Schluß sagt sie:
«Und Sie sind — der Angehörige des Patienten?«
«Ich bin der Patient.«
Sie sieht auf ihre Papiere.
«Da steht doch: Blinddarm.«
Ich zucke die Schultern.
Ich muß mich trotzdem auf ein Bett legen. Werde in die Ambulanz gerollt. Eine junge Ärztin macht meinen Bauch frei und untersucht mich. Ich gebe wieder spitze Schreie von mir. Ich erkläre ihr, ich sei empfindlich und kitzlig, aber es täte nicht weh usw. Sie nickt.
«Und? Blinddarm?«
«Dann wäre der Bauch hart.«
«Der Arzt, der mich hierhergeschickt hat, sagte etwas von einem schleichenden Durchbruch…«
«Dann wäre der Bauch auch hart.«
«Sie sehen mich erleichtert«, sage ich.
«Jetzt nehmen wir Ihnen Blut ab, um auszuschließen, daß es etwas anderes ist, als ich vermute, nämlich eine Darmgrippe.«
«Was? Blutprobe? Und wenn Sie dabei draufkommen, daß ich irgendwelche schweren Krankheiten habe?«
«Dann ist es gut, daß wir draufkommen.«
Nach der Blutabnahme schiebt man mich in meinem Bett auf den Gang. Eine Stunde wird die Analyse dauern, sagt die Ärztin. In einem kleinen Fernseher an der Wand läuft die Millionenshow. Ich würde gern zu Günther Jauch umschalten, aber es gibt keine Fernbedienung, ich muß mir den gräßlichen Dialekt des ehemaligen Skirennläufers anhören. Um mich abzulenken, rufe ich Daniel an und erzähle ihm, daß ich mit Verdacht auf eine Blinddarmgeschichte ins Spital gebracht worden und deshalb etwas verängstigt bin.
«Aber wieso?«fragt er.»An einem Blinddarm stirbt man doch nicht.«