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Herr Dr. Paulesker ist groß und hat ein gewinnendes Lächeln. Ich schildere mein Problem. Er sieht sich die Brücke an, dann schaut er in meinen Mund. Das ist der Moment, in dem ich wirklich nervös werde. Ich bin zwar sicher, daß alles in Ordnung ist, aber…

«Da ist etwas nicht in Ordnung«, sagt Dr. Paulesker.»Eine Füllung hat sich verabschiedet, und deshalb hat die Brücke weniger Halt. Kleinigkeit.«

Er greift zu den Bohrern. Ich quieke auf.

«Anästhesie!«

«Dafür? Also bitte. «Er lacht.

«Ich meine es ernst. Ich will eine örtliche Betäubung. Ist besser für die Nerven, Sie verstehen. Bin von Geburt an Hysteriker.«

Ich versuche, ihm ironisch zuzuzwinkern, aber das geht nach hinten los, er sieht mich an, als hätte ich sie nicht alle.»Na gut«, sagt er, gibt der Assistentin ein Zeichen, sein Ton wird härter, distanzierter,»aber die Kosten für die Anästhesie übernimmt die Kasse nicht!«

Er sticht so mittelprächtig, nicht gut, nicht schlecht, kein Vergleich mit dem genialen Dr. Pregel. Dr. Paulesker geht zum nächsten Behandlungsstuhl, insgesamt vier habe ich gezählt. Während das Mittel Zeit bekommt zu wirken, werde ich Ohrenzeuge einer Behandlung. Zuerst ist das Geräusch eines Bohrers zu hören, kurz darauf beginnt die Frau neben mir zu schreien. Das Bohrgeräusch verstummt, Dr. Paulesker spricht mit sanft mahnender Stimme auf sie ein. Wieder ertönt der Bohrer. Die Frau schreit.

Mir wird allmählich schwindlig. Wem bin ich da in die Hände gefallen? Ich halte mir die Ohren zu und fange an zu singen. Die Blicke der Assistentinnen stören mich nicht, sollen sie denken, was sie wollen.

Eine Frau kommt zu mir und begrüßt mich, ich muß die Hand vom Ohr nehmen. Die Frau stellt sich als Frau Dr. Paulesker vor. Ob ich zum ersten Mal da bin, ich nicke. Sie erklärt mir, ich müsse mich nicht sorgen, die kreischende Dame neben mir sei bekannt für ihre übertriebene Schmerzempfindlichkeit. Ich antworte, bei mir liegt die Sache nicht viel anders, auch ich bin überaus empfindlich. Mit ausdrucksloser Miene nickt sie mir zu, als hätte sie nicht gehört, und geht.

Ein grelles Licht wird mir ins Gesicht gehalten, ich öffne den Mund, Dr. Paulesker beginnt seine Arbeit. Es ist nicht so schlimm wie erwartet. Ich liege da, höre das Brummen, denke zur Zerstreuung an zukünftigen Lorbeer. Plötzlich setzt das Bohren aus. Frau Dr. Paulesker steht da und sagt zu ihrem Mann:

«Eine Frau am Telefon. Angeblich dringend!«

«Jetzt? Was soll das?«

«Sie weint.«

«Was?«

«Sie sagt, sie muß dich unbedingt sprechen. Es ist etwas passiert.«

«Wer ist sie denn?«

«Ihren Namen will sie nicht sagen. Sie behauptet, sie war mit dir in Paris.«

«Wie bitte?«

Ich bin ein guter Beobachter und Zuhörer. Und mir ist, als hätte Herr Dr. Paulesker vor diesem» Wie bitte?«geschluckt.

«Ich glaube, die ist verrückt. Aber vielleicht redest du mal mit ihr.«

Herr Dr. Paulesker winkt heftig ab und nimmt seine Arbeit in meinem Mund wieder auf. Keine sechzig Sekunden später steht seine Frau wieder neben uns.

«Schon wieder. Sie ruft dauernd an. Sie sagt, sie muß dich unbedingt sofort sprechen.«

«Sagt sie nicht, was sie will?«fragt er, weiterhin in meinen Mund schauend.

«Sie will es nur dir sagen. Ich soll dich an Paris erinnern. Ich habe ihr gesagt, du warst nie in Paris, darauf hat sie geschrien: Doch! Anfang Dezember! Ich habe ihr erklärt, Anfang Dezember warst du bei einem Kongreß in Pula. Sie geht darauf nicht ein, sie will mit dir sprechen. Sie weint und schreit.«

Ich sehe Herrn Dr. Paulesker an. Er kommt mir blaß vor, aber es könnte auch das Licht aus der OP-Lampe sein. Der Schweiß auf seiner Stirn kommt vielleicht von der anstrengenden Arbeit. Aber wieso zittert seine Stimme nun so, als er sagt:

«Ich. Kann. Jetzt. Nicht.«

«Was soll ich ihr sagen? Sie ist völlig hysterisch!«

«SAG IHR, SIE SOLL UNS IN RUHE LASSEN, UND LEG AUF! UND JETZT MUSS ICH HIER WEITERMACHEN, VERDAMMT NOCH EINMAL, DAS SIEHST DU DOCH! HEB EINFACH NICHT MEHR AB! HEB DEN HÖRER NICHT MEHR AB!«

«Und was ist, wenn Patienten anrufen?«

«WIR HABEN GENUG PATIENTEN!«

Als der verschwitzte Dr. Paulesker sich wieder über mich beugt und den Bohrer einschaltet, mache ich die Augen zu.

Vierzehn

Montag. Ich stelle mich auf den Balkon. Vor mir ragt der Grimming auf, ein beeindruckend schroffer Berg. Die Sonne scheint, die Luft ist klar, blauer Himmel. Etwas ist anders als sonst, ich merke es sofort. Wir haben Mitte März. Wahrscheinlich ist es der Frühling.

Beim Frühstück erzählt Gunther, wie er geschlafen hat, dann gibt er uns Ratschläge, wie wir den Tag verbringen sollen. Mit knapper Not können wir vermeiden, uns mit ihm zusammen auf den Weg zu machen. Ursel bleibt wieder bei Stanislaus, sie sagt, wir sollen uns erholen und Ski fahren, sie will sich die Woche nur um ihren Enkel kümmern. Ich finde das sehr nett von ihr. Überhaupt muß es einmal gesagt werden, nicht alle Schwiegermütter verdienen ihren üblen Ruf, meine jedenfalls ganz und gar nicht. Und auch gegen meinen Schwiegervater ist nichts einzuwenden, von gewissen Eigenheiten einmal abgesehen. Als wir ihnen damals mitteilten, wir würden heiraten, sah er mich mit einem Mordgesicht an, das ich nie vergessen werde, aber er hat das, was er sich damals offenbar dachte, nicht ausgeführt, sondern sich im Gegenteil sogar an mich gewöhnt, und das kann man nicht von vielen Leuten behaupten.

In Hochstimmung machen Else und ich uns über die Hänge her. Das Skigebiet hat eine angenehme Größe, etwa zwanzig Lifte, vielleicht ein paar mehr, davon einige moderne Sessellifte mit gepolsterten Sitzen, also genau das richtige für jemanden wie mich. Und die Abfahrten sind nirgends zu schwer. Vielleicht für Else eine Spur zu wenig Herausforderung, ihr Fahrkönnen hat Skilehrerniveau, aber für mich perfekt.

Wir fahren zwei Stunden, essen etwas, fahren weiter. Nach Mittag geht der Schnee» auf«, er wird weich und schwer. Else rät mir, aufzupassen. Ich fahre bereits wie ein junger Gott. Kein Hang ist mir zu steil, kein Tempo zu hoch. Ich fahre und sehe zugleich, wie elegant meine Schwünge sind.

Während ich mir noch denke, wunderbar fährst du, bleibt bei einem Schwung ein Ski im schweren Schnee stecken. Ich wanke und taumele, ein kurzes Stück fahre ich sogar rückwärts, dann folgt der Aufprall, und ich liege da.

Abends, nach dem Essen (Gunther erzählt uns von allen Pisten, die auch wir befahren haben), entdecke ich einen riesigen Bluterguß am Oberschenkel. Ich bin begeistert. Ich fotografiere ihn, aber die Bilder geben weder Ausmaß noch Gewicht der Verletzung wieder. Das Heroische will nicht mein Fach sein.

Dienstag. Schlecht geschlafen. Bis zwei Uhr früh wurde an unserer Tür gerüttelt und geklopft, auf dem Gang gejohlt und gelacht, Kinder schrien, Erwachsene röhrten. Ich war zu müde, um zu reagieren. Else hat gar nichts mitbekommen.

«Sagen Sie, haben wir heute nacht Betrunkene im Haus gehabt?«frage ich die Wirtin beim Frühstück.

«Ja, Entschuldigung, ja, bitte«, sagt sie verzweifelt und zieht sich zurück.

Von Maggie, der Kellnerin aus Halle an der Saale, ist mehr zu erfahren: Unsere direkten Nachbarn haben gesoffen und sind dann durchs Haus getobt. Ich frage, wieso sie niemand zur Ordnung gerufen hat. Maggie zuckt die Schultern.

Else und ich fahren wieder wie die Wilden. Es ist genauso schön wie am Vortag, doch ich kann mich nicht konzentrieren. Aus einem mir rätselhaften Grund fällt mir ein alter Zeitungsartikel ein. Darin stand, in bezug auf meinen damals gerade erschienenen Roman, nach der Lektüre dieses Buches müsse man zwei Monate lang Robert Wal ser lesen, um sich zu erholen. Nun, wer so etwas schreibt und sogar veröffentlicht, ist jedenfalls unredlich, auf alle Fälle eitel und vielleicht sogar ein bißchen blöd, und damit hätte sich die Sache ja schon. Aber heute ist das anders, heute passiert mir das, was mir mit anderen Dingen auch oft passiert, ich habe ein Flashback. Ich erinnere mich an Kritiken, an gute und schlechte, und frage mich, was mir bevorsteht, wenn im Herbst Die Arbeit der Nacht erscheint.