Ich kann kaum die Augen offenhalten. Stanislaus liegt auf mir. Bohrt mir seine Schulter in den Kehlkopf. Küßt mich ungeschickt. Rutscht von meiner Brust, schmiegt sich an meine Seite. Ich weiß nicht, wieviel Zeit vergeht, bis er schläft. Eine Stunde, vielleicht mehr. Wahrscheinlich ist es schon nach fünf. Na, egal. Wie ich ihn so umarme, spüre ich die Energie dieses kleinen Körpers, auch im Schlaf liegt er kaum eine Sekunde wirklich still, immer ist ein Teil in Bewegung.
Um elf fährt Else mit Stanislaus zu ihrer Mutter nach Graz. Ich setze mich an den Computer. Etwas kneift mich im Schritt. Ich würde gern nachsehen, aber ich traue mich nicht. Das Kneifen wird immer schlimmer. Ich gehe duschen, blind wie immer, ich habe Glück, nach dem Duschen ist das Kneifen weg.
Zwölf Uhr. Ich habe Zeit. Um vier treffe ich eine Kinderärztin, die sich auf meinen Artikel im Standard gemeldet hat. Eigentlich handelte er von Hochstaplern, aber ich erwähnte darin meine Iatrophobie und Hypochondrie, und daß ich es bedauere, keine Ärzte zu Freunden zu haben. Ein Freund hat mir diesen Tip gegeben, gegen Hypochondrie helfe so etwas. Also habe ich vor einiger Zeit begonnen, in Nebensätzen diverser Artikel nach Freundschaften zu rufen. Dr. Thallner hat als erste geantwortet.
Ich spiele wieder Civilization. Civ I habe ich 1995 gekauft, seit 2001 gibt es Civ III. Manchmal vergehen Monate, ohne daß ich die CD einlege, dann wieder verbringe ich zwei Wochen lang die Abende am Computer. Ich spiele, wenn ich deprimiert bin, wenn ich auf etwas warte, oder wenn ich gerade ein Buch fertiggeschrieben habe und das nächste noch nicht mehr als eine Ahnung ist.
Um halb drei löse ich mich von meinem Konflikt mit den Deutschen, deren Panzer mir zu schaffen machen. Ich stecke das Buch ein, das ich gerade lese, und gehe zum Naschmarkt.
Im Indian Pavillon esse ich. Es ist das dritte Mal in dieser Woche, und wir haben Mittwoch. Als es mir auffällt, ärgere ich mich. Ich bin wie ein Kind, alles muß seinen Gang gehen. Das Essen ist ausgezeichnet dort, aber jeden Tag? Ja, denn woanders könnte es ja schlecht schmecken und dann wäre ich verärgert usw. Thomas Glavinic ist ein Achtjähriger, und ich muß mit ihm leben.
Während des Essens lese ich in Der Hauptmann und sein Frauenbataillon. Mein Gewissen humpelt vorbei. So nenne ich einen Mann, der täglich auf dem Naschmarkt bettelt. Sein Alter kann ich nicht schätzen. Mit Drogen hatte oder hat er vermutlich zu tun, er sieht ziemlich ramponiert aus. Lücken im Gebiß, schleppende Sprache, zudem hat er einen kleinen Buckel und hinkt. Vermutlich hat ihn jeder, der regelmäßig den Naschmarkt aufsucht, schon gesehen, er ist der einzige der Naschmarktbettler, dem ich etwas gebe. Im Grunde ist er überhaupt Adresse all meiner Wohlfahrtshandlungen. Ich spende ab und zu fürs Rote Kreuz, und wenn es irgendwo Hochwasser gibt, hole ich mir einen Überweisungsschein. Aber regelmäßig gebe ich nur dem Buckligen. Ohne daß ich mehr von ihm und seinem Leben wissen möchte. Einmal wollte er mir Bücher verkaufen.»Satiren«, sagte er,»schau mal. «Ich schüttelte den Kopf.»Du bist wohl eher kein Leser?«fragte er verständnisvoll, und ich nickte.
Der Bucklige sieht mich fragend an. Ich zeige auf meinen Teller. Er schlägt sich gegen die Stirn, entschuldigt sich. Ihm ist eingefallen, daß er von mir immer etwas bekommen kann, aber nicht, während ich esse, meine Regel. Seine Entschuldigung ist mir unangenehm, ich spüre seine Angst, mich zu verärgern. Jetzt fühle ich mich schlecht. In Hinkunft muß ich ihm auch beim Essen etwas geben. Er merkt es sich nicht, und ich will ihn nicht demütigen.
Daniel ruft an. Er liegt bei 35.000 Verkauften. Mir bleibt die Luft weg, der Mann hat schon 75.000 Euro verdient. Ich gratuliere und verspreche ihm, später zurückzurufen, eine Verabredung.
Ich bestelle noch eine Tasse Kaffee. Das Amacord ist mir fremd, ich kenne es nur, weil mein niederländischer Übersetzer hier gern herkommt. Um diese Zeit sind nicht viele Leute da. Am Nebentisch sitzt eine Frau mit einer Freundin, in der Ecke ein Junge mit einem Laptop. Mir gegenüber trinkt eine Frau mittleren Alters mit derber Körpersprache Cola, raucht Zigaretten und liest in der Wirtschaftswoche. Beim Eintreten hat sie sich nicht umgesehen, schenkt mir auch weiterhin keine Beachtung. Die ist es nicht. Sieht auch nicht gerade wie eine Ärztin aus. Eher wie jemand, der viel und vorwiegend mit den Händen arbeitet.
Viertel nach vier. Wir hätten doch unsere Handynummern austauschen sollen. Ich lese weiter. Mehrmals muß ich so laut lachen, daß sich Leute nach mir umdrehen. Nur die Frau gegenüber starrt in ihre Zeitung. Wenn jemand hereinkommt, schaue ich auf. Keine Frau ohne Begleitung, zweimal ein Mann, einmal ein Paar.
Hat sich da jemand einen Scherz erlaubt? Mein Artikel handelte immerhin von Hochstaplern. Ist jemand auf die Idee gekommen, mich auf diese nicht unelegante Weise an der Nase herumzuführen? Eine Ärztin zu erfinden, die mir bei meinen eingebildeten und realen Krankheiten mit Rat und Tat zur Seite stehen wolle?
Der Gedanke packt mich, und ich beginne den an der Theke stehenden Männern böse Blicke zuzuwerfen. Vielleicht ist einer davon der Unhold, wegen dem ich hier sitze. Ich forsche in den Gesichtern. Niemand, den ich kenne. Keine Fotohandys, kein verstohlenes Grinsen. Ich beruhige mich wieder. So viel Aufwand wird niemand wegen mir treiben. Außer Daniel, aber der ist gerade in Berlin.
Die Frau gegenüber hat ausgetrunken und gezahlt, trotzdem bleibt sie sitzen. Sie sieht auf die Uhr, ich ebenfalls. Es ist halb fünf vorbei. In diesem Augenblick begreife ich. Sie ist es. Und mir wird klar, warum ich sie nicht angesprochen habe. Es ist ihre Ausstrahlung. Sie wirkt so in sich zerrissen und unterschwellig aggressiv, daß ich keine Lust habe, mit ihr zu reden. Egozentrisch, nervös, unglücklich, enttäuscht. Und enttäuscht nicht erst, seit sie sich von ihrem Blind date versetzt fühlt, sie ist schon so gekommen.
Nachdem sie gegangen ist, bleibe ich aus Pflichtbewußtsein noch bis fünf sitzen. Ich könnte mich auch getäuscht haben. Außerdem fesselt mich das Buch.
Es regnet. Ich überlege: Zu essen habe ich nichts zu Hause, später werde ich Hunger bekommen. Ich laufe noch einmal zum Inder. Zugleich ärgere ich mich wieder über mich. Aber es ist, als weigerte sich ein Teil meines Gehirns, über Alternativen auch nur nachzudenken.
Auf dem Heimweg höre ich plötzlich in der Nähe wildes Gebrüll. Ich schaue auf und sehe einen glatzköpfigen Riesen, sein Oberkörper ist nackt, er hat eine Tarnhose an und trägt Springerstiefel. Er hält Autos auf und schreit die Fahrer an. Einem läuft er nach, er hämmert auf das Autodach, der Fahrer rast in Panik davon. Der Irre kommt zurück, sieht mich an, und ich falle beinahe um, solcher Wahnsinn leuchtet aus diesem Blick.
Keine zehn Meter von mir entfernt steht ein Kerl, der den Stahlkörper eines Söldners hat, mitten in einer hochaggressiven Psychose steckt und mich böse ansieht.
Er macht einen Schritt auf mich zu. Ich stehe da wie gelähmt. Ein Auto hupt ihn an, er zuckt zusammen, dann geht er auf das Auto los, und es stört ihn nicht, daß es zufällig ein Lkw ist. Ich laufe davon. Auf der Straße bildet sich ein enormer Stau, der Irre blockiert den gesamten Verkehr auf der Wienzeile. Ich bin unschlüssig, was macht man in so einem Fall? Zum ersten Mal seit längerer Zeit bin ich froh, als ich einen Polizisten sehe.
«Guten Tag, ich wollte Ihnen nur sagen…«
«…daß da vorne viele Schwarzafrikaner sind, die dealen. Nicht wahr? Das wollten Sie sagen. Ja? Nicht wahr?«
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Ingrid Thallner
<Angst?>
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nun, schade. seltsame sache. wieso sind sie nicht aufgetaucht?