Diese Besuche reißen mich aus der Konzentration, außerdem ertönen immer wieder diese unerklärlichen spitzen Schreie. Trotzdem habe ich schließlich die zehn Fragen beisammen. Erwin stellt mich den ausnahmslos Betrunkenen im Raum vor, es folgt Applaus, ich erhebe die Stimme, um zu grüßen und die Fragen vorzulesen. Sie lauten:
Wie heißt Old Shatterhands Pferd?
Unter welchem Namen kennt man Fred Cutter?
Wie heißt der berühmte Kiowa-Häuptling, den Old Shatterhand zum Krüppel schießt?
Old Surehand und Apanatschka sind a) Cousins b) Brüder c) Gespenster d) Nachbarn
Wie heißt Dick Hammerdulls bester Freund?
Wie heißt der Vater Winnetous?
Der Transvestit heißt Tante… a) Stark b) Kess c) Droll d) Grob
Winnetous Lehrer Klekih-Petra wird getötet von a) Rattler b) Pinscher c) Spitz d) Pudel
Wie nennt Winnetou seinen Bruder Old Shatterhand?
Was trägt Winnetou in Dresden auf dem Kopf?
Gelächter, Gläserklirren, alle reden durcheinander und versuchen voneinander abzuschreiben. Die Musik ist aus, die spitzen Schreie ertönen noch immer, es ist ein furchtbares Falsettgeheul. Eine ältere, etwas füllige Frau kommt zu mir und stellt sich als Kennerin meiner Bücher vor, sie sagt wörtlich Kennerin meiner Bücher. Sie wirkt etwas weniger betrunken als die anderen, ich schätze sie auf sechzig. Sie gratuliert mir zu meinem Carl Haffner, so ein schönes Buch, sagt sie. Gerade will ich antworten, da stellt sich eine junge Frau, deren Gesicht offenkundig vom Alkohol aufgeschwemmt ist, vor mich hin und sagt:
«Wie gefällt dir meine Stimme? Ich singe Child In Time von Deep Purple!«
Und dann ertönen die spitzen Schreie direkt vor mir.
Nach einer Weile lasse ich mir die ausgefüllten Antwortbögen aushändigen. In Windeseile werte ich sie aus, während es rund um mich immer lauter wird. Mal da, mal dort ertönen die Schreie, ab und zu überwindet die Sängerin auch den Anfang, und es folgt die Textzeile» Swiiit Scheild in Deimm, juuu sii da leit — siii da bla-hind men — schuuuuuuuding et da wöald«— und dann hört man wieder:»Aaaaaaah-aaaaaah-aah! Aaaaaaah-aaaaaah-aah!«Dennoch komme ich zu einem Ergebnis. Ich lese die Antworten vor.
Hatatitla
Old Wabble
Tangua
b)
Pitt Holbers
Intschu-Tschuna
c)
a)
Scharlieh
einen Zylinder
Es gibt einen Gewinner — immerhin hat er sieben Fragen richtig beantwortet —, dem als Preis ein Bild von Erwin überreicht wird. Es ist Harri, der bei der Bestattung arbeitet und Gedichte schreibt. Jetzt erst fällt mir auf, daß keines der Bilder an den Wänden einen Rahmen hat, sie sind einfach an die Wand geklebt worden. Darauf angesprochen, erklärt mir Erwin, er habe kein Geld.
Ich werde ein wenig belagert. Die ältere Frau weicht nicht von meiner Seite, auch die Sängerin taucht immer wieder auf, dazu gesellen sich noch Hubert, der braungebrannte Gitarrist, der auch mit seinen fünfzig Jahren noch von einem Erfolg als Musiker träumt, und der schöne Oskar. Auf mich wird Frage um Frage abgeschossen, nach Bestsellern, nach Geld, nach» anderen «Berühmtheiten. Es ist erstaunlich, was die Leute so denken, wenn man ein- oder zweimal in der Zeitung gestanden hat. Ich versuche das Thema zu wechseln. Die Sängerin singt mir ständig Child In Time vor und fragt mich, wie ich ihre Chancen einer professionellen Karriere einschätze. Hubert spielt sich in den Vordergrund, er pocht auf seine Erfahrung und läßt sie diverse andere Lieder singen.
Ich flüchte in eine Ecke. Der Weg ist weit. Wäre ich ein Schiff, würde man sagen, ich habe starke Krängung, und ich bin froh, als ich wieder sitze.
Ich denke über das Buch nach, das ich am Nachmittag gelesen habe. Wie so oft, wenn ich getrunken habe, beginne ich allerhand selbstquälerische und von Selbstmitleid nicht gänzlich freie Fragen aufzuwerfen: Mache ich möglicherweise den gleichen Fehler wie so viele andere Schriftsteller, überschätze ich mich? Bin ich in Wahrheit ein durchschnittlich begabter, leichtgewichtiger Autor, der nie imstande sein wird, ein Meisterwerk zu schreiben, ebenso wie er nie imstande sein wird zu erkennen, was in Wahrheit sein Niveau ist? Das Talent, das ich angeblich habe — ein Irrtum?
Gut möglich, gut möglich. Außerdem, jetzt verfolgen mich schon Nazis mit idiotischen Kommentaren.
Ich stelle mich an die Theke. Der Wirt schüttelt mir über dem Tresen die Hand, er heißt Tolja. Ich:»Armdrücken.«
«Was?«
«Armdrücken.«
Er mustert mich von oben bis unten, und offenbar gefällt ihm, was er da sieht, denn was sieht er, einen Bleistiftlutscher. Er setzt sich an einen Tisch und stemmt den Ellbogen auf die Tischplatte. Ich setze mich ihm gegenüber. Sofort sind wir von den anderen umringt. Ich beginne zu drücken, er ist stärker, als ich erwartet habe, oder ich bin schon zu betrunken, aber dann gewinne ich doch. Man merkt Tolja an, wie erstaunt er ist. Mein Siegespreis: ein Schnaps.
Erwin zieht mich hoch, wir wanken in seine Stammkneipe, die Jausenstation Hirschmann, die er die» Vorhölle «zu nennen pflegt. Das ist ein unbeschreiblicher Schuppen, ein Lokal für gestrandete Existenzen, das vierundzwanzig Stunden am Tag geöffnet hat. Links von mir geht die ältere Frau, rechts die Sängerin, daneben läuft Hubert mit seiner Gitarre, die er irgendwann geholt haben muß.
Als wir ankommen, sitzen am einzigen größeren Tisch des Lokals eine zahnlose Frau und ein Mann unbestimmbaren Alters mit zerstörtem Gesicht. Als er uns sieht, wird sein Blick starr, und er beginnt am ganzen Leib zu zittern, wie bei einem epileptischen Anfall, nur schwächer. Die Frau steht auf, umarmt ihn und flüstert:»Ganz ruhig… es ist nichts. Ganz ruhig…«
Wir setzen uns ins Hinterzimmer, ich bestelle Frankfurter und Mineralwasser. Ich bin so hinüber, daß ich meinen Oberschenkel gegen den der älteren Frau dränge. Sie drängt zurück. Bei der Sängerin bin ich abgemeldet, seit ich gesagt habe, sie muß vielleicht noch etwas üben. Hubert hat die Gunst der Stunde erkannt, und sie besprechen eine Zukunft als musikalisches Duo.
Ein SMS von Danieclass="underline" Was???
Ich will von der älteren Frau wissen, ob sie einen Freund hat usw. Erwin verpaßt mir einen Hieb in die Rippen. Er tippt sich gegen die Stirn. Schließlich flüstert er mir ins Ohr:
«Was willst du von der alten Frau?«
Gegen vier Uhr früh ist es soweit. Ich frage, ob sie mich mit nach Hause nimmt. Sie sagt nein.
«Wie?«
«Nie am ersten Abend.«
«Aber… einen zweiten wird es wohl nicht geben.«
«Na sicher! Hier hast du meine Nummer! Wenn du wieder in Graz bist, rufst du an. Und vielleicht…«
Ich staune. Ich bin zwar überzeugt, ich hätte einen Rückzieher gemacht, schon weil ich Else nicht erklären müssen will, warum ich die Nacht bei einer dicken Sechzigjährigen verbracht habe. Aber wieso sagt sie nein? Ich dachte, ich sei hier der junge bekannte Schriftsteller, attraktiv, beliebt, charmant, und was ist sie? Sie ist die, die nein sagt. Nein. Ich fasse es nicht.
Bald darauf verabschiedet sie sich. Ich gehe auf die Toilette und schaue in den Spiegel. Alles beim alten.
Mit dem Wirt spiele ich ein paar Partien Schach. Ich gewinne. Es ist halb sechs.
Sechzehn
Frühmorgens, nach weniger als drei Stunden Schlaf, schleppe ich mich in die Küche. Dort steht meine Mutter. Sie trägt nichts als ein Nachthemd, das einem Außenzelt ähnelt. Sie hat schon wieder keine Zähne im Mund.