Er hat eine kleine Tochter. Wir reden über Kindererziehung. Ich erwähne, ich werde Stanislaus in eine Privatschule schicken, sofern ich es mir leisten kann. Er ist entrüstet, seine Frida kommt natürlich in eine öffentliche Schule. Ich erkläre, in öffentlichen Schulen ist der Anteil von Kindern, die kaum Deutsch können, eklatant, die Lehrer müssen sich verstärkt um diese Kinder kümmern, wodurch weniger Zeit für Stanislaus bleibt. Er soll aber etwas lernen.
«Ich finde es wichtiger, daß meine Frida lernt, daß Mehmet ihr Freund ist«, sagt Korn und schießt ein Foto von mir.
«Das finde ich weniger wichtig als Lesen, Schreiben, Rechnen«, sage ich.»Zumal sie das auch woanders lernen kann. Z.B. bei dir zu Hause.«
Er beharrt darauf, öffentliche Schulen sind die einzige Möglichkeit. In seiner Schulzeit waren Kinder aus Privatschulen die gräßlichsten Schnösel, mit denen konnte man nicht reden. Ich sage ihm, siehst du, bei dir lernt Frida, daß Mehmet ihr Freund ist, aber Mario, der in die Schnöselschule geht, ist pfui. Korn lacht, macht wieder ein Foto. Gerade stellt mir Herr Chandihok meine Nachspeise hin, Mango Melba, und der skrupellose Korn fotografiert mich, als ich die Hohlhippe in den Mund schiebe.
Er erzählt mir, er und seine Freundin wollen vielleicht noch ein Kind, aber diesmal ein adoptiertes. Er hätte gern ein schwarzes, eines aus Uganda, dort war er und dort ist es wunderbar. Ich frage ihn, wieso sie es nicht selber machen, wozu einfliegen lassen.
«Auf keinen Fall. Ich liebe Kinder, aber ich will nicht selbst dafür verantwortlich sein, was sie sind.«
«Wieso? Das ist doch das Schöne — man gibt seine Gene weiter, man sieht, was man gemeinsam mit einem Menschen produziert hat, den man liebt.«
«Nein, genau das ist das Üble«, sagt er und knipst mich.»Ich will meine Gene nicht weitergeben. Wollte ich nie.«
Mir wird klar, daß das stimmt — er wollte es wirklich nie. Sein Selbsthaß ist enorm, und er hatte ihn schon vorher.
Als ich hier angelangt bin mit meinen Überlegungen, kommt mir der Gedanke, Korn könnte diese kleine Diskussion nur inszeniert haben, um mich lebhaft werden zu lassen und lebendigere Bilder zu bekommen. Ist er nun sehr schlau, oder bin ich sehr paranoid? Ich verzichte darauf zu fragen, und wir verabschieden uns.
Ich rufe Gerrit an, meinen niederländischen Übersetzer, der seit einigen Wochen in Wien lebt. Wir hatten gestern vereinbart, ich melde mich, wenn ich in der Nähe bin.
«Hallo?«
«Hallo Eiergespenst, wer sagt Sau zum Hengst?«rufe ich sinnlos.
«Wie bitte?«
«Na, du Hühnermanöver! Was ist los? Zeit?«
«Wen wollen Sie sprechen, bitte? Wer sind Sie?«
«Äh? Ääääh? Thomas hier. Glavinic. Bist das nicht du, Gerrit?«
«Hier ist Robert Menasse.«
«Holla. Bah. Broah. Äääää…ntschuldigung, Verzeihung, ich wollte Sie nicht… ich meine…«
«Schon in Ordnung.«
«Öhm, ja, hmmm, also wirklich…«
Menasse ist freundlich und verzeiht mir. Wir kennen einander persönlich nicht, er schlägt vor, wir könnten uns mal in seinem Stammcafé, dem Sperl, treffen. Sehr nett, sage ich. Ich begreife allmählich. Früher hat Gerrit, wenn er in Wien war, in Menasses Wohnung gewohnt, und in dieser Zeit war Menasse meist in Amsterdam. Statt Gerrit habe ich Gerrit Wien gewählt. Aber Gerrit ist nun Gerrit, denn so habe ich es Tage zuvor eingespeichert, und Gerrit Wien ist noch immer Robert Menasse. Mit irrem Lachen verabschiede ich mich.
Zu Hause alles ruhig, offenbar sind sie noch im Zoo. Ich setze mich vor den Fernseher. Es läuft ein alter Don-Camillo-Film. Eigentlich wollte ich lesen, aber ich komme nicht vom Bildschirm weg. Ich verstehe genau, warum diese Filme genial sind, es liegt einerseits an den zwei Feinden, die in Wahrheit Freunde sind, und das ist tröstlich, und es liegt andererseits an Jesus, der zu Camillo spricht, und das ist noch tröstlicher. Ich verstehe diesen Film, aber das ändert doch nichts daran, daß ich mir immer wieder die Augen wischen muß.
Ich schreie mich an, schlage mir auf die Backe, aber es hilft nichts, ich bin gerührt. Erst als der Film aus ist, werde ich wieder vernünftig. Ich lege mich hin und versuche in den recht verschwurbelten Roman eines unbekannten Südamerikaners hineinzufinden, aber es gelingt mir nicht. Statt dessen schnappe ich mir die Autobiographie einer ehemaligen Pornodarstellerin.
Eine Stunde lese ich, dann ist das Buch aus, und ich setze mich an den Computer. Keine Mails. Ich schreibe Daniel ein SMS. Er schreibt zurück, er kann jetzt nicht, weil er bei einem Essen mit dem Außenminister von Brasilien sitzt, Gilberto Gil ist auch da. Richtig, ich hatte es vergessen, Daniel ist diese Woche mit dem deutschen Außenminister in Südamerika unterwegs. Ich rufe die Homepage der Austrian Airlines ab und lese, was da über Flugangstseminare steht. Das nächste wäre im Sommer. Ich schreibe ein Email, ob noch Plätze frei sind. Zugleich frage ich mich, was ich mache, wenn sie wirklich etwas frei haben.
Die drei kommen nach Hause. Sie erzählen mir vom Tierpark, ich höre müde zu, unauffällig trage ich ein Bier in mein Arbeitszimmer. Else zeigt mir ein gerahmtes Foto, das ich gut kenne. Jahrelang hing es im Büro meiner Mutter. Ich bin darauf zu sehen, ich bin etwa acht Jahre alt.
«Hat sie mir geschenkt«, sagt Else.
«Wie, geschenkt?«
«Weil sie Angst hat, es könnte herunterfallen.«
Wir wechseln einen Blick. Sofort ist mir alles klar. Meine Mutter ist sehr abergläubisch. Daß das schon solche Formen angenommen hat, war mir aber nicht bewußt. Ich weiß, was sie denkt: Wenn mein Bild herunterfällt, ist mir etwas zugestoßen. Davor fürchtet sie sich, und ihre Lösung sieht so aus, daß sie das Bild verschenkt.
Es wird Abend. Ich sperre mich in meinem Arbeitszimmer ein. Ich schaue in die Aufzeichnungen, die ich mir zu meinem nächsten Roman gemacht habe. Da und dort notiere ich etwas, ergänze, arbeite noch weiter aus. Ich sehe ihn vor mir, nicht handfest als Buch, sondern als Idee, und bin — ja, es ist schwer zu sagen, was ich bin.
Ich trinke einen Schluck. Eine Weile lese ich in den Fahnen von Die Arbeit der Nacht. Gefällt mir. Dieser Roman erscheint in drei Monaten. Der andere existiert bislang nur in meinem Kopf. Ich gehe durchs Arbeitszimmer und denke an diese beiden Bücher, sehe sie vor mir, als ein Teil von mir und zugleich als etwas Fremdes, von mir Geschaffenes. Ich fühle mich wie ein Siebzehnjähriger.
Als ich ins Wohnzimmer komme, sind Else und meine Mutter dabei, Anekdoten auszutauschen, und nicht selten stehe ich in deren Mittelpunkt. Meine Mutter erzählt, wie ich als Schüler einem Kameraden beim Skikurs ins Bett gepißt habe. Else fällt daraufhin ein, daß ich früher dafür bekannt war, an lustigen Abenden im dritten oder sechsten Stock aus dem Fenster zu pinkeln, man habe mich nicht aus den Augen lassen dürfen, plötzlich sei ich verschwunden, und man habe mich mit offener Hose auf dem Fensterbrett gefunden, den Kopf als Sicherung gegen den Absturz zwischen Innen- und Außenfenster verkeilt.
Meine Mutter wird von einem Lachanfall geschüttelt. Ich bitte, mit diesen Geschichten aufzuhören. Das hilft natürlich nichts, sie machen weiter, und ich lege mich aufs Sofa. Es war zuviel Bier, ich bin schläfrig. Im Fernsehen gibt es nichts Interessantes, außerdem würde ich sowieso wenig mitkriegen.
Ich halte die Augen geschlossen und döse vor mich hin. Else und meine Mutter sprechen leiser. Es geht um mich, aber nicht nur. Ich bin zu müde, um hinzuhören, auf dem Sofa ist es bequem. Ab und zu höre ich das Klirren von Tassen, ab und zu wird eine Schublade zu laut geschlossen. Sie reden und reden. Es fallen Namen, Ortsbezeichnungen, Jahreszahlen werden genannt.
Plötzlich merke ich, daß jemand über mir steht. Die Person verharrt eine Weile vor dem Sofa, dann setzt sie sich wieder zum Tisch.