Ich nehme die Notizen, die ich bis jetzt für meinen nächsten Roman gesammelt habe, es sind ungefähr zwanzig DIN-A4-Zettel. Ich lese sie. Ja, klingt alles gut. Ich will jetzt arbeiten.
Draußen Gewitter, der Regen kommt mir waagrecht entgegen. Die Zettel unter der Jacke geschützt, laufe ich vorbei am a², hinter dessen Fenstern ich die üblichen Verdächtigen sehe, die mir das Arbeiten schwermachen würden. Ich laufe zehn Minuten, bis ich am Kiosk ankomme, einem lauten Laden, in dem es Qualitätswürste gibt. Ich bestelle eine Bosna und ein Bier und mache mich an die Arbeit.
Ein weiblicher DJ zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. Das Mädchen ist ungefähr zwanzig, dick, nicht besonders attraktiv, schwarz gekleidet, sie legt passable Sachen auf. Ich stehe ja all dieser Jugendkultur fern bzw. finde alles, was unter alternative bekannt ist, eher langweilig. Aber die Musik hier paßt gerade, und ich beobachte in Nachdenkpausen die Frau an den Mischpulten. Sie hat Kopfhörer auf und macht, was ich schon tausendfach an anderen Musikhörenden gesehen habe: die Nein-Bewegung des Kopfes. Mit geschlossenen Augen lauscht sie, dazu wiegt sie den Kopf. Alles an ihrer Miene ist Hingabe, doch wie fast bei allen Menschen, die Musik hören, sagt ihre Mimik ein leidendes Nein. Es drückt Leidenschaft aus, aber wieso ein Nein? Wieso nicht Ja? Nie werde ich das verstehen.
Und noch etwas fällt mir auf: Wie alle DJs steht sie da und besitzt die Musik. Den Menschen, die hier ringsum sitzen und stehen, ist sie aus ihrer Sicht überlegen. Was sie uns vorspielt, das ist sie. Die Musik gehört ihr, und deshalb ist sie besser, besser jedenfalls als ohne die Musik. So wie manche Leute Handke besitzen oder meinetwegen Arno Schmidt.
Das fünfte Bier hat mir sichtlich nicht gutgetan, und weil ich heute ohnehin schon weiter gekommen bin als in den Monaten zuvor, lege ich den Kugelschreiber weg. Mich starrt ein junger Kerl an. Ein Bier in der Hand, steht er da und starrt, er sieht aus wie ein Hillbilly, lange fettige Haare, abgerissene Kleidung, die hungrigen Augen des Schwätzers. Ich sehe ihn und weiß im selben Moment, was passieren wird.
«Darf ich dich stören?«fragt er und setzt sich neben mich.»Ich will dich nicht stören, aber ich sehe, du schreibst. Bist du Schriftsteller? Menschen, die sich etwas notieren, sind nachdenklicher als andere, und ich fühle mich wohler unter ihnen, ich gehöre zu ihnen. Gewissermaßen gehören wir beide zusammen…«
Ich sage nichts. Er starrt mich an wie ein Uhu. Ich lächle, drehe mich weg. Er bleibt sitzen. Starrt.
Mir ist nicht danach, mir den Abend ruinieren zu lassen, ich stehe auf, zahle, ich habe nicht die Kraft und nicht den Willen, höflich zu sein. Draußen ist es kühl, es regnet, ich spanne den Schirm auf. Ich möchte wirklich wissen, wieso sie immer, immer, immer mich auswählen, überall, in der U-Bahn, auf der Straße, im überfüllten Lokal.
Neunzehn
In der Nacht vor dem dritten und letzten Tag des Flugangstseminars schlafe ich schlecht. Ich habe solche Angst vor dem bevorstehenden Flug, daß ich mich von einer Seite auf die andere wälze, nichts beruhigt mich, keine Tricks, keine Selbstbeschwichtigung, kein Musikhören. Ich frage mich, ob es das gewesen ist. Ob ich am Abend abstürzen, ob ich sterben werde. Auf dem Weg nach Brüssel. Oder auf dem Rückweg.
Und dann bekommt Stanislaus einen Weinkrampf. Plötzlich brüllt er auf, beginnt zu weinen, und nun ist er es, der durch nichts zu beruhigen ist. Er weint und weint und schreit immerzu:»Nein!«Und ab und zu:»Papi!«
Natürlich bedeutet das, er hat Vorahnungen. Ich werde abstürzen.
Wenigstens verstehe ich jetzt endlich, nach so vielen Jahren, den Schluß von Winnetou. Ich hatte mich schon immer gefragt, wieso Winnetou, wenn er Todesahnungen hat, sich trotzdem darauf versteift, den Kampf gegen die Ogellalah anzuführen, als erster am Seil in den Hancock-Berg hinabzuklettern, zumal ja Scharlieh ihn anbettelt, am Kampf nicht teilzunehmen, er würde die entführten Siedler schon ohne ihn befreien. Auch ich kann jetzt nicht daheim bleiben und die anderen Neurotiker allein nach Belgien fliegen lassen. Ich würde mich so elend fühlen, wenn das Flugzeug nicht abstürzt. Da gehe ich lieber das Risiko ein, daß meine bösen Ahnungen zutreffen. Denn eine kleine Chance besteht ja, davonzukommen. Nicht jede Maschine stürzt ab.
Irgendwie bekomme ich doch ein wenig Schlaf. Als der Wecker läutet, finde ich mich nicht zurecht. In der Sekunde, in der ich an den Flug denke, bin ich hellwach.
Ich ziehe mein Nacht-T-Shirt aus. Eigentlich wollte ich es zur Wäsche geben, doch jetzt fällt mir auf, was für ein Zeichen das wäre: Ich lege es ab, und ein neues liegt nicht bereit. Also werfe ich es aufs Bett.
Das gleiche im Bad, nach dem Duschen will ich mein Badetuch in den Wäschekorb stopfen. Bis mir zum Glück einfällt, daß ich ja wiederkommen will. Ich darf es mir nicht erlauben, irgend etwas fertigzumachen. Sonst wird es passieren, sonst wird Else danach überall Zeichen gesehen haben. Das Badetuch hat er weggegeben, das T-Shirt hat er weggegeben… — es war klar, er kommt nicht zurück. Nein! Ich muß mein Schicksal selbst mitgestalten. Borges hat einen Satz geschrieben, den ich schon als Kind, also lange ehe ich ihn kannte, verinnerlicht hatte, an den ich immer schon geglaubt habe:»Die Wirklichkeit pflegt mit dem Vorausgesehenen nicht übereinzustimmen. Daraus folgt, daß etwas vorhersehen soviel heißt wie verhindern, daß es eintritt. «Ich kann ihn auswendig, und ich denke oft an ihn.
Beim Kaffee sehe ich die Post durch. Ein Packen Fotos ist darunter, die Isolde Ohlbaum vor ein paar Wochen von mir in München gemacht hat. Entsetzt starre ich auf die Bilder. Ich im Regen. Mit Schirm, ohne Schirm. Ausgerechnet heute müssen sie kommen. Ein letzter Gruß, das, was übrigbleibt. What you leave behind: der Titel der letzten Folge von Deep Space 9. Ich wollte seit Jahren ein Buch so nennen. Das, was du zurückläßt. Else wird sagen: Und genau an dem Morgen sind die Bilder gekommen. Als ich die Nachricht gehört habe, lagen die Fotos vor mir. Ich habe sein Gesicht gesehen und gedacht…
Gegen das T-Shirt und das Badetuch konnte ich etwas unternehmen. Die Fotos kann ich nicht schlagen. Die sind gekommen, und ich kann sie nicht abwehren.
Beim Abschied stehen Else und ich herum, offenbar weiß auch sie nicht recht, was sie sagen soll. Ich muß unentwegt schlucken, Stanislaus hängt sich an mein Hosenbein, ich hebe ihn hoch und gebe ihm einen Kuß. Er sagt:»Auf Wiedersehen, Papi!«
Im letzten Moment kommt mir der richtige Gedanke. Ich gehe noch mal in die Küche und stecke die Fotos ein. Wenn sie bei mir sind, kann Else sie nicht gesehen haben, als die Nachricht usw…, also besteht Hoffnung, daß die Nachricht überhaupt nicht kommt, weil ich ja die Fotos bei mir habe.
Auf dem Weg zum CAT, dem City Airport Train, bekomme ich Bauchweh. Was, wenn das so weitergeht? Im Seminar kann ich das nicht brauchen, und im Flugzeug schon gar nicht.
In der Apotheke kaufe ich eine Schachtel Kohletabletten, im Zeitschriftenladen daneben die Presse. Heute sind die ersten Seiten von Die Arbeit der Nacht vorabgedruckt. Mit einem Foto von mir. Aber dieses Bild ist etwas anderes, das nehme ich positiv. Heute, an dem Tag, an dem ich fliege, wird mein Roman erstmals von vielen Menschen gelesen, das ist ein gutes Omen, jedenfalls für den Roman. Abstürzen sollte ich allerdings nicht, das wäre auch für den Roman ein schlechtes Vorzeichen.
Ich habe nicht das Gefühl, es sei mein letzter Tag. Aber welche Gewähr bietet dieses Gefühl? Ich bin nicht Winnetou, ich ahne nicht. Oder wenn, vielleicht falsch.
Am Flughafen. Gut sieht keiner aus. Mike, mit dem ich mich an den vergangenen Tagen ab und zu ausgetauscht habe, erzählt mir, er sei seit halb fünf wach. Der Mann, den wir den Mönch nennen, hat seine Selbstsicherheit verloren, er tritt von einem Fuß auf den anderen und redet nichts. Überhaupt gibt es plötzlich kaum noch Kommunikation, alle sind mit sich selbst beschäftigt. Der Blonde mit dem Silberblick, der immer die Fäuste ballt, in dessen Gesicht es zuckt und der aussieht, als würde er uns alle töten wollen, uns, weil niemand anderer da ist, er würde jeden nehmen, dieser Mann macht einen so bedrohlichen Eindruck von Grenzgang und Überforderung, er strahlt etwas so Zerrüttetes, Krankes, Verschobenes und Wildes aus, daß ich gar nicht mehr wegschauen kann und sogar meine Angst vergesse. Dieser Mensch ist so offenkundig gestört, richtig und wirklich gestört, mir ist es ein Rätsel, wie er in der Gesellschaft bis jetzt funktionieren konnte.