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Ich setze mich auf den OP-Tisch und halte die kleinen Arme und Beine fest, dann geht es los. Sie träufeln ihm ein Anästhetikum auf das Ohr. Er bleibt ruhig. Sie gehen daran, die Wunde zu säubern. Er bleibt ruhig. Dann der erste Stich. Jede Naht besteht aus zwei Stichen. Ab jetzt brauche ich meine ganze Kraft, um Stanislaus niederzuhalten. Der Arzt redet sanft auf ihn ein, er ist nett. Die Ärztin fragt mich, ob ich ihr wohl nicht vom Tisch kippe, ich sage, es geht schon, aber ich muß mich zusammenreißen.

Die nächste Naht, Schreien und Weinen. Unter den OP-Lampen wird mir immer heißer. Die dritte Naht, also die Stiche fünf und sechs. Stanislaus heult, ich erkenne die Stimme kaum. Minuten vergehen, alle Beteiligten sind sichtlich angeschlagen. Vierte Naht. Er weint und zuckt. Und dann noch eine, die fünfte und letzte. Stanislaus wird verbunden. Mir tut alles weh, ich ziehe mir das Plastikzeug von Kopf und Gesicht, nehme Stanislaus auf den Schoß und kneife ihn in die Seite. Er lacht.

Im Auto schläft er vor Erschöpfung ein. Ich betrachte ihn im Rückspiegel, sein Gesicht, die entspannten Züge. Ohne zu wissen warum, kaufe ich einem Kolporteur an der Kreuzung eine Zeitung von morgen ab. Else und ich reden leise. Im nachhinein sind wir froh, wenigstens ist nichts noch Schlimmeres passiert. Ich bin ein wenig stolz, nicht umgekippt zu sein, durchgehalten zu haben. Aber nur so lange, bis ich höre, was Else erlebt hat. Sie mußte die ganze Zeit über sein Gesicht sehen.

Zu Hause trage ich Stanislaus ins Bett, auch Else legt sich gleich hin. Ich kann nicht, ich schlage die Zeitung auf. Ein Bericht über einen Mord. In der Nähe unserer Wohnung hat jemand seinen Nachbarn erschossen. Das Opfer war ein hochaggressiver Psychotiker, der, wenn er nicht gerade im Irrenhaus saß, seine Nachbarn Tag und Nacht terrorisierte. Der Täter, ein Unteroffizier des Heers, stellt den Mann um Mitternacht wegen zu lauter Musik zur Rede, zu seiner eigenen Sicherheit hat er die Dienstwaffe dabei. Der Randalierer geht auf ihn los, der Unteroffizier schießt, eine Kugel trifft die rechte Achselhöhle. Der Mann stirbt.

Merkwürdige Geschichte. Ich lese den Artikel noch mal. Einiges daran finde ich sonderbar. Ich betrachte das Foto des Toten. Ein Kahlkopf mit wirklich irrem Ausdruck, das hat die Fotoredaktion gut ausgesucht.

Den kenne ich.

Kein Zweifel. Es ist der Mann, der mir vor fast einem Jahr gegenübergestanden hat, der auf der Wienzeile viehisch herumbrüllte und Autos aufhielt, der kahle Riese mit dem psychotischen Schub.

Einundzwanzig

Ich habe geträumt, ich sei Bundespräsident geworden. Ein achtköpfiges Gremium hat mich gewählt. Eigentlich wollten mehrere Mitglieder im ersten Wahlgang nur ein Zeichen des Protests setzen, indem sie mir eine Stimme geben, doch die Dummköpfe hatten sich nicht untereinander abgesprochen. So daß ich plötzlich fünf der acht Stimmen hatte und Bundespräsident war. Danach wollten sie mich zu einem freiwilligen Rückzug bewegen, aber ich blieb hart, als ich erfuhr, ich würde 20.000 Euro im Monat bekommen.

Ich habe keine Ahnung, woher dieser Unsinn in meinem Hirn stammt. Vielleicht sind es die Kritiken. Diese Woche erscheint Die Arbeit der Nacht, und in Österreich gibt es allerhand gute Besprechungen. Auf den Fotos sehe ich schockierend übergewichtig aus. Na, egal. Daniel wurde vom Spiegel gefragt, ob er über mich schreibt, er hat es gemacht, und nun bin ich gespannt, was passiert.

Zu Mittag habe ich das fünfte Interview. Ich finde es interessant zu beobachten, daß auch dieser fünfte Journalist die Wikipedia-Seite über mich vor sich liegen hat. Ich finde es schon deswegen interessant, weil ich die selbst geschrieben habe. Also zumindest die erste Fassung. Ist schon eine Weile her, zwei Jahre bestimmt, ich hatte keine Lust, darauf zu warten, bis irgendein Lump Bösartigkeiten über mich verbreitet. Ein wirklich sachlicher Artikel übrigens, ich lobte mich nicht besonders, über mein zweites Buch schimpfte ich sogar, natürlich im Rahmen. Aus taktischen Gründen von mir hinterlassene Detailfehler (falsches Geburtsjahr etc.) wurden von eifrigen Usern bald korrigiert, die seither den Artikel auch immer wieder auf den neuesten Stand bringen, so daß er keine große Ähnlichkeit mehr hat mit meinem.

Karin Graf ruft an, sie freut sich über den Artikel im Spiegel. Christina Knecht, die Pressebetreuerin des Hanser Verlags, erzählt mir von einer klugen und positiven Besprechung in der Neuen Zürcher Zeitung, sogar Michael Krüger sei beeindruckt gewesen. Wolfgang Matz schließlich sagt, wir werden einige Auflagen drucken. Dann ruft meine Mutter an.

«Wieso bist du nicht auf der Bestsellerliste und dein Freund immer noch?«

Unvermittelt fällt mir die Geschichte ihres ersten Treffens mit Else ein. Wir saßen in einem Café in Graz, einer scheußlichen Spelunke, in der meine Mutter aus unerfindlichen Gründen gern zu Mittag ißt. Ich erwähnte, ich hätte eine neue Freundin, und als sie so interessiert dreinschaute, sagte ich, wenn sie will, kann sie sie gleich kennenlernen, Else war nämlich gerade in der Nähe einkaufen. Meine Mutter verstand mich falsch, sie begann den Kopf ungeniert nach allen Seiten zu drehen, weil sie annahm, Else sei bereits hier. Sie deutete auf eine übergewichtige, blasse Mittfünfzigerin mit abgearbeitetem Gesicht, vor der ein Glas Rotwein stand:»Ist sie das?«

Ich habe den Humor eines Achtjährigen. Ich stehe mit Stanislaus am Fenster und schieße mit einer Wasserpistole auf die Leute im Garten. Die kreischen, schauen zu uns hoch, und ich rede mich auf meinen Sohn heraus, der ebenfalls eine Wasserpistole in der Hand hält. Ihm gefällt das. Else nennt mich einen Kindskopf, ich höre trotzdem nicht auf. Eine Viertelstunde lang hole ich immer wieder neues Wasser, bis die da unten richtig durchnäßt sind. Aus einem Nachbarfenster dudelt Musik, irgendein Gute-Laune-Trottel aus dem Radio erzählt etwas von einem bevorstehenden Robbie-Williams-Konzert, normalerweise würde mich das jetzt stören.

Am späten Nachmittag kommt Ursel und übernimmt Stanislaus. Else und ich gehen zu Akakiko essen. Danach ist sie mit einer Freundin verabredet. Ich weiß nicht recht, wohin ich soll. Ich rufe Daniel an. Der kann nicht, weil er einen Artikel für die New York Times schreiben muß. Ich rufe den Prinzen an. Der ist irgendwo in Kärnten, wo er Baldur an seinem neuen Zuhause besucht. Der Professor ist in Brasilien. Und sonst fällt mir niemand ein, den ich jetzt fragen könnte, ob er mit mir etwas unternehmen will. Ich kenne nur unspontane Leute.

Weil ich ja mein Englisch verbessern will, komme ich auf die Idee, ins English Cinema zu gehen. Sie spielen Pirates Of The Caribbean 2. Johnny Depp, also gut, ich versuche es.

Im Wartesaal des Haydn-Kinos stelle ich mich in eine Ecke. Die Leute erkennen mich. Sie schauen zu mir her, schauen wieder weg, reden miteinander, schauen wieder her. Ich stehe da und tue so, als bemerke ich nichts. Es muß sich sonderbar anfühlen, wirklich bekannt zu sein. Wenn das bei mir jetzt schon solche Dimensionen hat, denn mehr und mehr Leute schauen unauffällig zu mir. Gefällt mir aber irgendwie. Was ein paar Rezensionen ausmachen können.

Ich beobachte eine junge Frau, die ihrerseits mich beobachtet. Sie hat einen Silberblick, aber sonst sieht sie recht gut aus. Ich frage mich, wo sie über mich gelesen hat. Sie sieht nicht aus wie jemand, der viel liest. Sie schaut mich an, als würde sie mich kaum sehen. Diese Fehlstellung der Augen.

Diese Fehlstellung der Augen. Ist überhaupt keine Fehlstellung der Augen. Die schaut woandershin. Schaut über mich. Wo…?