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Ich stehe unter dem Bildschirm, der Trailer zeigt. Die Leute, die mich anstarren, starren nicht mich an, sondern informieren sich über bevorstehende Kinopremieren.

Der Film ist ein Reinfall. Erstens verstehe ich zuwenig, zweitens geht mir die Geschichte auf die Nerven. Mittendrin verschwinde ich, und ich bin froh, als ich auf der Straße stehe, obwohl ich nicht weiß, was ich jetzt anfangen soll.

Zwei SMS. Eines von Thomas Maurer, der eine Besprechung gelesen hat und gratuliert. Das andere von Bernd: Baby, wir warten auf dich im a2!

Eigentlich sollte man sich nicht mit Männern treffen, die einen Baby nennen, aber mir bleibt nichts anderes übrig, es ist kein Abend, allein zu Hause zu sitzen.

Alle Stammgäste und Kellnerinnen, die dienstfrei haben, sind da, und alle sind betrunken und überdreht. Bernd sitzt unansprechbar in einer Ecke. Enrico, der Student, der gegenüber wohnt, fällt mir um den Hals, auf der anderen Seite umarmt mich seine Freundin Tanja. Sie ist so hinüber, daß sie schwuppdiwupp auf der Nase liegt. Wir helfen ihr hoch, Enrico setzt sie auf einen Barhocker. Ich frage, ob sie nicht vielleicht, wenn sie schon nicht nach Hause gehen will, lieber an einem Tisch sitzen würde, aber sie beginnen gleich fröhlich auf mich einzubrüllen, und mir bleibt nichts übrig, als mich dieser Atmosphäre von Dunkelheit, Unmoral und Rausch zu ergeben. Ich bestelle B-52.

Alex, der Wirt, regt sich fürchterlich darüber auf, daß jemand in seinem Klo etwas an die Wand geschrieben hat:»Bitte, wer ist so verrückt und schreibt Samen an die Wand?«Er kann sich kaum beruhigen. Nicht, daß er wirklich wütend wäre, er kann sich nur nicht von dem Gedanken an einen Menschen befreien, der solche Dinge an Wände schreibt.

Ich gehe auf die Toilette, es stimmt. Die ganze Wand ist unbeschriftet, keine Klosprüche, keine Graffiti, nur ein kleiner Schriftzug: Samen. Das heißt, eigentlich steht da Somen. Ich habe keine Ahnung, was ihn so erschüttert, er sollte froh sein, daß da nicht ganz andere Sachen stehen. Kurz habe ich den Verdacht, er könnte es selbst geschrieben haben.

Zwei Stunden später bin ich betrunken. Ständig schmeißt jemand eine Runde, und man muß mittrinken, ob man will oder nicht. Ich will eigentlich. Mich stört nicht ein mal, daß Tanja ihr Glas umschüttet und jemandem ein Viertelliter Weißwein in den Schuh hineinrinnt. Es ist der rechte. Ich versuche das unangenehme Gefühl am Fuß zu ignorieren.

Auch Enrico wird allmählich verhaltensauffällig. Ich kenne das bei ihm schon. Gerade hat er allen Ernstes gesagt:»Ich bin ein Ausländerfreund. «Ich weiß gar nicht, was die da um mich reden und wie er auf so etwas kommt. Ich lache.

«Und Israel tötet Kinder«, sagt er da plötzlich neben mir.

«Was?«

«Na, sie haben im Libanon wieder mal Zivilisten bombardiert.«

«Aber das heißt doch nicht, daß Israel Kinder tötet!«

«Das ist ein Terrorstaat«, sagt Enrico.

Ich stelle ihm einige scharfe Fragen, er sagt immer wahnsinnigere Sachen. Mir wird schlecht. Ich sehe sein freundlich-argloses Gesicht vor mir, und ich sehe darin den arabischen Laden am Naschmarkt, in den er so gern geht, das Falafelhaus ein paar Häuser weiter, wo er so gern mit dem Kurden Wasserpfeife raucht, und all die anderen Kneipen ringsum, wo er sich so links und korrekt fühlt, weil er mit Arabern raucht und säuft und ein Freund von ihnen ist, egal, was für Meinungen sie vertreten. Ich stehe vor diesem politisch korrekten Menschen, der es in Ordnung findet, daß in Nordisrael seit Jahren Woche für Woche Raketen neben Altersheimen und Kindergärten einschlagen, weil ja, so steht es geschrieben, Israel ein Aggressor ist. Ich sehe diesen Kerl vor mir, sehe, was ihn eigentlich antreibt, und aus mir bricht solcher Ekel, bricht solche Wut hervor, daß ich zu heulen anfange und aus dem Lokal laufe.

Max Goldt hat über seine Gefühle beim Besuch eines KZ geschrieben. Er schildert, wie ihm die Tränen hochsteigen, und wie er sie unterdrückt, weil er nicht weiß, ob seine Gefühle lauter sind in diesem Moment. Und wie einige Monate später, er sitzt allein zu Hause, plötzlich die Tränen kommen, und da kann er dann Vertrauen zu sich und seinen Tränen haben.

An diese Geschichte denke ich jetzt, während ich nach Hause gehe. Ich weiß nicht, was mit mir los ist, wieso wirft mich das jetzt so aus der Bahn?

Ich rufe Daniel an. Er weiß auch nicht, wieso ich so durchgedreht bin und ins Telefon weine, aber er sagt:»Du bist wirklich sehr betrunken«, und tröstet mich, so gut man einen ausgeflippten Betrunkenen eben trösten und beruhigen kann. Wir reden über Antisemitismus, über seine Formen und Ursachen, es ist kein sehr erfreuliches Gespräch, aber durch Daniels sachlichen Ton verringert sich meine Hysterie auf das übliche Maß.

Drei Uhr früh. Ich leere den Weißwein aus meinem Schuh ins Waschbecken, ziehe den tropfenden Strumpf aus und werfe ihn in den Wäschekorb. Ich ziehe mich bis auf die Unterhose aus. Dann drehe ich mich vom Spiegel weg, fixiere einen Punkt an der gekachelten Wand und schiebe den Slip runter. Mit zusammengekniffenen Augen steige ich in die Dusche. Ich drehe das Wasser auf, in jeder Sekunde eingedenk, auf keinen Fall nach unten schauen zu dürfen. Also dieselbe Prozedur wie jeden Tag.

Ich weiß nicht, was diesen Impuls in mir auslöst, der Alkohol allein kann es nicht sein, denn ich habe schon oft betrunken geduscht. Plötzlich finde ich es so idiotisch, daß ich seit fast zwei Jahren meine Hoden nicht mehr gesehen habe, so albern, daß ich mich über mich selbst sehr ärgere. Ich steige aus der Dusche, ohne mich abzutrocknen, und betrachte mit heftig klopfendem Herz im breiten Schrankspiegel meine Hoden.

Der eine ist GRÖSSER. Mein Gott, der eine ist GRÖSSER! Ach ja, der war ja schon immer… Aber war er soviel…?

Ich setze mich auf den Badewannenrand, nehme Rasierschaum und Rasierer. Ich beginne mit einer Totalrasur meines Intimbereichs. Immer wieder muß ich mich zwingen, die Augen aufzumachen. Hinzuschauen, mir bewußtzumachen, daß alles in Ordnung ist. Daß diese oder jene Unregelmäßigkeit keinen Tumor anzeigt. Bei einer schnellen Bewegung rutscht mein Hintern vom Wannenrand, und ich fliege auf den Duschvorleger. Ich rapple mich auf, nichts tut mir weh, und ich mache weiter. Blutstropfen vermischen sich mit Wasser und Rasierschaum, werden dünner, verschwinden, kommen wieder, verschwinden wieder. Ich hole mir einen Handspiegel, dabei mache ich den nächsten Abflug, diesmal erwischt es mein Kreuz. Ich setze mich, nehme den Spiegel, schaue, es ist eine schwierigere Arbeit, als ich gedacht habe, jedenfalls für einen Betrunkenen. Wieder liege ich plötzlich auf dem Vorleger, wieder stehe ich auf. Der Spiegel fällt mir aus der Hand, zerbricht jedoch zum Glück nicht.

Und dann bin ich fertig. Ich betrachte mich im Spiegel. Zwei unausgebeulte Hoden. Zwei krebsfreie Hoden. Ich bin nicht krank. Oder? Ich bin nicht krank. Oder?

Ich brause mich ab. Setze mich an den Computer, um Mails zu schreiben.

Zweiundzwanzig

«Das mußt du dir vorstellen. Im Hotelfoyer kommt eine Frau mit Hund auf mich zu. Danke für das wunderbare Buch, das Sie geschrieben haben!«

«Nett.«

«Die Frau war Iris Berben.«

«Oh.«

«Ja.«

«Iris Berben hat sehr schöne Beine.«

«Einen netten Hund hat sie. Einen Mischling namens Pauli. Und der Fahrer, der mich ins Studio brachte, kannte die Vermessung der Welt ebenfalls. Stell dir das mal vor, ein Fahrer, der liest.«

«Daran merkt man, daß du nicht in Österreich warst.«

«Allerdings.«

«Ich glaube, ich habe gestern nacht wieder Emails geschrieben.«

«Na und? Ich habe auch Emails geschrieben.«

«Ja, aber du warst nicht betrunken.«

«Vielleicht doch.«