Als ich noch sieben oder acht Stufen vom Bärtigen entfernt bin, tritt aus einer Seitentür eine Frau heraus. Sie ist auf jene Art geschminkt, die dem routinierten Besucher dramatischer Veranstaltungen anzeigt, daß diese Person etwas zu erzählen hat, daß sie die Trennlinie zwischen Schauspieler und Besucher nicht respektieren wird. Gut, ich gebe zu, ich übertreibe, so etwas sieht man niemandem an. Aber ich rieche so etwas. Und weiß schon, was jetzt kommt.
Die Frau rudert entrückt mit den Armen wie eine Betrunkene beim Tanzen, sie schneidet Grimassen, dann blickt sie die in der Schlange Wartenden herausfordernd an. Ich starre auf einen imaginären Punkt über dem Kassenhäuschen. Nicht mich, denke ich, nicht mich, nichtmichnichtmichnichtmich. Und höre von hinten: LISAS SCHATTEN! LISAS…
Die Frau steigt die Treppe hoch. Jedem blickt sie ins Gesicht. Sie bleibt stehen. Neben mir. Beugt sich zu mir. Und während ich noch denke: Wieso nicht der Kerl zwei Reihen weiter, wieso nicht die beiden Frauen vor mir, wieso nicht die beiden Frauen hinter mir, und während ich genau in diesem Moment feststelle, um wie viel mehr Frauen als Männer hier versammelt sind, raunt mir die Frau laut zu — ein theatralisches Paradoxon, am Theater wird laut geraunt und laut geflüstert und leise geschrien — raunt sie mir zu:
«Hast du…«wisper, wisper…»HAST DU bschbschschschhhhhh? CHAST DU ÖS bschschhhhhsch? ODERR CHASCHT DU NÄCHT bschschschsch?«Und wisper, wisper, bsss.
Alle starren uns an, tuscheln. Ich werfe der Frau jenen Blick zu, den man denen zuwirft, von denen man will, daß sie wissen, daß man sie für total bescheuert hält. Sie steigt die Treppe weiter hinauf.
«Habe kein Wort verstanden«, sage ich erleichtert zu den Frauen hinter mir.
«Wir auch nicht«, nicken sie.»Das sollte wohl auch so sein.«
Langsam, langsam rücke ich dem Bärtigen näher. LISAS SCHATTEN ist trotzdem noch überlaut zu hören. Ich frage mich, wie man es schafft, eine halbe Stunde vor sich hinzufaseln und nicht müde zu werden. Noch drei, noch zwei, noch einer, dann endlich bin ich an der Reihe.
«Hast du reserviert?«fragt mich der Bärtige.
Ich schüttle den Kopf.»Gibt es noch Restkarten?«
«Eine Warteliste gibt’s.«
LISAS SCHATTEN! LISAS HÄNDE…
«Ich weiß nicht, ob ich da draufstehen will. Wie lang ist sie denn? Wissen Sie schon, bis wann sich entscheidet, wie viele Karten…«
Ein Mann, offensichtlich zu den Veranstaltern gehörend, drängt sich neben mich. Er sagt zum Bärtigen:»Du kannst ruhig mehr Karten verkaufen, das geht sich schon aus.«
«Da macht uns die Feuerpolizei Schwierigkeiten.«
«Die Feuerpolizei ist nicht da.«
Sie diskutieren. Die Schlange hinter mir reicht hinauf bis zur Eingangstür, wo noch immer die Clownsfrau auf der Bierkiste steht. Der hinzugekommene Mann geht wieder fort.
«Haben Sie nun eine Karte für mich?«frage ich zögerlich.
«Auf die Warteliste kann ich dich setzen.«
«Aber ich mag nicht auf die Warteliste. Ich glaube, ich gehe lieber wieder.«
«Ja gut, aber ich setze dich auf die Warteliste. Wie heißt du?«
Ach, warum nicht, denke ich, vielleicht kennt er mich ja. Oh, der Autor, warum haben Sie das nicht gleich gesagt, hier bitte die Karte, und hätten Sie Lust, später mit uns etwas essen zu gehen…
Thomas Glavinic, sage ich und schaue ihm in die Augen.
Klawenetsch, schreibt er.
«Gut. Du kannst dir nachher die Karte abholen.«
«Und wann genau?«
«Kurz vor acht.«
Ich sehe auf die Uhr. Es ist 20.10 Uhr. Hinter mir treten Dutzende Leute von einem Fuß auf den anderen. Ich lächle dem Bärtigen zu, bedanke mich freundlich und gehe nach oben, vorbei an der Bierkiste, hinaus auf die Straße. Ich warte, ob zufällig ein Taxi vorbeikommt. Hinter mir gellt: LISAS SCHATTEN! LISAS HÄNDE! LISAS…
Fünf
Ausnahmsweise habe ich meine Pflichten rechtzeitig erfüllt, ich habe vorgestern den letzten der dreiundzwanzig Viennale-Preis-Filme angesehen, und heute abend findet die Jurysitzung statt. Mein Favorit steht fest: Spiele leben heißt er, ein Film über einen spielsüchtigen Mann, der sich in eine heroinsüchtige Frau verliebt. Deren Darstellerin, wow. Sie heißt Birgit Minichmayr, und außer mir, ich habe mich umgehört, scheint sie jeder zu kennen, offenbar habe ich wirklich keine Ahnung vom Film in Österreich. Für diesen Streifen werde ich stimmen.
Das gute Gewissen gegenüber meiner Verantwortung als Jurymitglied hilft mir jedoch nicht über den Kater hinweg, der die Folge des gestrigen Abendessens bei Freunden ist. Als Else mich um elf weckt, ziehe ich mir beleidigt das Kissen über den Kopf. Doch es hilft nichts, um zwölf habe ich einen Termin. Ein Mittagessen mit Herbert Prohaska, dem berühmtesten und besten Fußballer in der österreichischen Geschichte.
Mit starrem Hals und zusammengekniffenen Augen gehe ich duschen. Nach einer Weile stelle ich den Regler auf zwanzig Grad. Else kommt nachschauen, weshalb ich so tobe. Sie tippt sich gegen die Stirn. Stanislaus ist begeistert, er bleibt und sieht mir zu, wie ich mich abtrockne und dabei einen Spitzentanz aufführe.
Beim Anziehen merke ich, wie heiß mein Gesicht noch immer ist. Katerhitze. Mir ist übel. Am liebsten würde ich absagen. Das geht natürlich nicht. Den größten Fußballer in Österreichs Geschichte zu treffen ist eine Ehre. Großer Gott, da habe ich einmal im Leben so einen absurd interessanten Termin, und dann bin ich verkatert wie die Hölle.
Mails, nichts Vernünftiges dabei. Bei Perlentaucher lese ich, jemand schreibt in der Süddeutschen, Daniel sei der beste Autor seiner Generation. Ich zucke zusammen. Das bin doch ich! mein erster Gedanke. Halt! Ich zwinge mich zu denken. Daniel hat ein wunderbares Buch geschrieben. Er verdient sich alles Lob, das er bekommt. Ich kann ihm diesen Zeitungsartikel schon mal verzeihen. (So wie die Titanic mal eine Umfrage in der Fußgängerzone machte: Sollen wir den Juden endlich verzeihen? Und 80 Prozent kreuzten Ja an.)
Ich frage mich, wie viele Autoren sich jetzt richtig ärgern, wenn schon ich mich für einen Moment erniedrigt fühle. Aber vielleicht schätze ich das falsch ein, vielleicht bin gerade ich derjenige, der sich damit am intensivsten auseinandersetzen muß, eben weil wir Freunde sind. Ich fühle mich im Stich gelassen. Es ist, als hätten sich zwei zu einer Reise verabredet, und dann nimmt der eine den früheren Zug.
Nachdem ich mich eine Weile selbst bemitleidet habe (noch immer kein berühmter Schriftsteller, noch immer nicht reich, noch immer kein neuer Verlag), schleppe ich mich ins Tancredi. Toni, der Sportredakteur, ist schon da. Ich habe ihn bei seiner kürzlich erschienenen Prohaska-Biographie ein wenig unterstützt. Es folgte ein Artikel von mir in der Presse, der Prohaska so gut gefiel, daß er mich kennenlernen wollte. Und ich will ihn erst recht kennenlernen, denn als Kind habe ich ihn im Stadion angefeuert. Später wurde er Teamchef der Nationalmannschaft, jetzt kommentiert er jede Woche im TV die Champions League und Länderspiele. Welcher französische Schriftsteller in meinem Alter würde nicht gern mit Michel Platini zu Mittag essen? Welcher deutsche nicht gern mit Franz Beckenbauer? Okay, das vielleicht doch nicht, sagen wir: mit Wolfgang Overath oder Günter Netzer? Auch wenn man sich für Fußball nicht mehr so stark interessiert wie in Kindheit und Jugend, die alten Helden aus der Nähe zu sehen reizt.
Wir bestellen die Getränke, ich nehme Mineralwasser. Wein wäre mir lieber, aber wie sieht denn das aus, um zwölf Uhr mittag noch vor dem Essen Alkohol zu trinken. Dann kommt Prohaska und bestellt sich ein Glas Bier. Er fragt, ob ich die Krawatte eigens wegen ihm umgebunden hätte, ich verneine und erkläre ihm, ich trage regelmäßig und gern Krawatten. Das stimmt auch und beschert mir mit unerbittlicher Regelmäßigkeit abfällige Kommentare von Thomas Maurer und dem Mitarbeiter der Wiener Village Voice.