«Weil es tatsächlich so ist, Mr. Conklin. Ich vertrete eine Abteilung der Regierung, die an Ihnen äußerst interessiert ist, eine, in der Ihre Zukunft ebenso unbegrenzt wäre wie die jedes Kandidaten, mit dem ich in den vergangenen zehn Jahren gesprochen habe…«
Diese Unterhaltung liegt beinahe dreißig Jahre zurück, dachte Alex, während seine Augen wieder zur Tür des Wartezimmers hinüberwanderten. Und wie verrückt die dazwischenliegenden Jahre gewesen sind. Ohne Rücksicht auf sich selbst hatte sein Vater sich zu einer unrealistischen Expansion entschlossen und sich übernommen. Er jonglierte mit ungeheuren Geldsummen, die nur in seiner Phantasie existierten — und in den Köpfen geiziger Bankiers. So verlor er sechs seiner sieben Supermärkte, und der letzte ihm verbliebene ermöglichte ihm lediglich einen Lebensstil, den er unerträglich fand. Folglich bekam er einen Schlaganfall. Er starb an einem Schlaganfall, als das erwachsene Leben von Alex gerade begann.
Berlin, Ost und West, Moskau, Leningrad, Taschkent und Kamtschatka. Wien, Paris, Lissabon und Istanbul. Dann auf der anderen Seite der Welt in Tokio, Hongkong, Seoul, Kambodscha, Laos und schließlich Saigon und die Tragödie, die Vietnam war. Über die Jahre, durch sein Sprachgenie und seine Erfahrung, war er der Spitzenmann der CIA für verdeckte Operationen geworden und oft der Ad-hoc-Stratege für spezielle, meist schnelle getarnte Aktivitäten. Dann eines Morgens, als der Nebel noch über dem Mekongdelta hing, erschütterte eine Tretmine sein Leben, und er verlor seinen Fuß. Für einen Mann der Praxis, der bei seiner Arbeit vor allem mobil sein mußte, war das praktisch das Ende. Dann schied er aus dem Außendienst aus, und es ging bergab. Sein übermäßiges Trinken akzeptierte er und erklärte es als genetisch bedingt. Der russische Winter der Depression ging in Frühling, Sommer und Herbst über. Das zum Skelett abgemagerte, zitternde Wrack eines Mannes, der dabei war unterzugehen, erhielt eine Galgenfrist. David Webb — Jason Borowski — kam zurück in sein Leben.
Die Tür ging auf und unterbrach gnädig seine Träumereien. Peter Holland kam langsam herein. Sein Gesicht war blaß und verzerrt, sein Blick glasig, und in seiner Linken hielt er zwei Plastikhüllen, wahrscheinlich Kassetten.
«Solange ich lebe«, sagte Peter mit leiser und hohler Stimme, fast ein Flüstern,»hoffe ich, so etwas niemals mehr miterleben zu müssen, niemals mehr Zeuge einer solchen Sache werden zu müssen.«
«Wie geht es Mo?«
«Ich hab nicht geglaubt, daß er es überleben würde… Ich dachte, er würde sich umbringen. Walsh war immer wieder nahe daran, es abzubrechen. Ich kann dir sagen, ihm saß die Angst im Nacken.«
«Und warum hat er es nicht getan, in Gottes Namen?«
«Er sagte, Panovs Anweisungen seien nicht nur sehr detailliert, sondern daß er sie zudem niedergeschrieben und unterzeichnet habe und erwarte, daß sie wörtlich eingehalten würden. Vielleicht gibt es so etwas wie einen ungeschriebenen Kodex zwischen Ärzten, ich weiß es nicht. Aber ich weiß, daß Walsh ihn an ein EKG anschloß, was er nicht aus den Augen ließ. Ich auch nicht. Das war leichter, als Mo anzuschauen. Laß uns hier weggehen!«
«Einen Moment noch. Was ist mit Panov?«
«Er ist noch nicht soweit, um eine Party zur Feier seiner Rückkehr zu veranstalten. Er wird für ein paar Tage unter Beobachtung bleiben. Walsh wird mich morgen früh anrufen.«
«Ich würde ihn gerne sehen. Ich will ihn sehen.«
«Es gibt nichts zu sehen. Glaube mir, du würdest es nicht wollen und er auch nicht. Laß uns gehen.«
«Wohin?«
«Zu dir nach Vienna — zu uns nach Vienna. Ich nehme an, du hast ein Kassettendeck.«
«Ich habe alles außer einer Mondrakete. Das meiste kann ich nicht bedienen.«
«Ich möchte eine Pause und eine Flasche Whisky.«
«Es gibt alles, was du willst, im Appartement.«
«Stört es dich nicht?«fragte Holland und sah Alex scharf an.»Würde es was machen, wenn es das täte?«
«Nicht im geringsten… Wenn ich mich recht erinnere, gibt es da auch noch ein extra Schlafzimmer.«
«Ja.«
«Gut. Wahrscheinlich sind wir die halbe Nacht auf, um uns das anzuhören. «Der Direktor hielt die Kassetten hoch.»Die ersten Male bringen nichts. Weil wir da nur seine Schmerzen mitbekommen, nicht die Informationen.«
Es war kurz nach fünf Uhr nachmittags, als sie das Gelände verließen. Die Tage wurden kürzer, der September stand vor der Tür, und die untergehende Sonne kündete die bevorstehende Veränderung mit einer Farbintensität an, die nur den Tod der einen Jahreszeit und die Geburt der nächsten bedeuten konnte.»Das Licht ist immer am hellsten, wenn wir sterben müssen«, sagte Conklin und lehnte sich im Wagen neben Holland zurück, wobei er zum Fenster hinausblickte.»Ich finde das äußerst unpassend«, erklärte Peter ärgerlich.»Wer hat das gesagt?«
«Jesus, glaube ich.«
«Die Schrift wurde niemals ordentlich herausgegeben. Zu viele Lagerfeuer und zu wenig Bestätigung durch Augenzeugen.«
Alex lachte leise und nachdenklich.»Hast du sie jemals gelesen? Die Schrift, meine ich.«
«Das meiste, ja.«
«Weil du mußtest?«
«Zum Teufel, nein. Mein Vater und meine Mutter waren so agnostisch, wie es zwei Leute nur sein konnten. Sie schickten mich und meine beiden Schwestern in der einen Woche in einen protestantischen Gottesdienst, in der nächsten in einen katholischen und dann in eine Synagoge. Nicht so regelmäßig. Ich glaube, sie wollten, daß wir alles kennenlernten. Das bringt Kinder zum Lesen. Natürliche Neugier, in Mystizismus gehüllt.«
«Unwiderstehlich«, pflichtete Conklin bei.»Ich habe meinen Glauben verloren, und jetzt, nach all den Jahren, durch die ich
meine geistige Unabhängigkeit behauptet habe, frage ich mich, ob mir nicht was fehlt.«
«Was denn?«
«Trost, Peter. Ich habe keinen Trost.«
«Wozu?«
«Ich weiß nicht. Dinge, die ich nicht kontrollieren kann, vielleicht.«
«Du meinst, dir fehlt der Trost einer metaphysischen Entschuldigung. Tut mir leid, Alex, aber da kann ich dir nicht folgen. Wir sind verantwortlich für das, was wir tun. Und daran kann keine Absolution etwas ändern.«
Conklin wandte sich Holland zu und sah ihn mit weit geöffneten Augen an.
«Danke«, sagte er.
«Wofür?«
«Daß du genauso sprichst wie ich, vielleicht mit etwas anderen Worten… Ich kam vor fünf Jahren aus Hongkong zurück, mit dem Banner der Verantwortlichkeit an meiner Lanze.«
«Da komme ich nicht mit.«
«Vergiß es. Es geht schon wieder… Hüte dich vor den Fallgruben ecklesiastischer Mutmaßungen und selbstverzehrender Gedanken.«
«Wer hat das wieder gesagt?«
«Entweder Savonarola oder Salvador Dali, ich weiß nicht mehr, wer.«
«Laß uns damit aufhören«, lachte Peter.
«Warum denn? Wir können wenigstens wieder lachen. Und was ist mit deinen beiden Schwestern? Was ist aus denen geworden?«
«Das ist ein noch besserer Witz«, antwortete Peter. Er legte das Kinn auf die Brust, und seine Lippen umspielte ein boshaftes Lächeln.»Eine ist Nonne in Neu-Delhi und die andere Präsidentin ihrer eigenen Werbefirma in New York, und sie kann besser jiddisch als ihre meisten Kollegen in der Branche. Vor ein paar Jahren erzählte sie mir, daß sie aufgehört haben, sie ein Schickse zu nennen. Sie liebt ihr Leben, genau wie meine Schwester in Indien.«
«Trotzdem bist du zum Militär.«
«Nicht trotzdem, Alex… Und ich habe es ganz bewußt getan. Ich war ein zorniger junger Mann, der glaubte, dieses Land verwahrlose vollkommen. Ich stamme aus einer privilegierten Familie — Geld, Einfluß, eine teure Privatschule —, das garantierte mir — mir, nicht dem schwarzen Kind in den Straßen von Philadelphia oder Harlem automatisch den Zugang zur Uni in Annapolis. Ich dachte einfach, daß ich diese Privilegien auch verdienen müsse. Ich mußte zeigen, daß Leute wie ich nicht einfach nur ihre Vorteile ausnutzten, ihren Verantwortungen aber aus dem Weg zu gehen.«