«Ich sage Ihnen noch einmal, daß Sie unrecht haben!«Die Frau wehrte sich nicht mehr; es war sinnlos. Statt dessen machte sie sich ganz steif, ohne die geringste Bewegung, als bekäme sie nur so die Erlaubnis zu sprechen.»Werden Sie mir endlich zuhören?«fragte sie unter Schmerzen, weil Jasons Unterarm sie noch immer an die Wand drückte.
«Vergessen Sie's, Lady«, antwortete Borowski.»Sie fühlen sich nicht gut — eine Barmherzige Schwester, der von einem Fremden geholfen wird. Sie hatten einen Ohnmachtsanfall. In Ihrem Alter passiert das doch häufiger, oder?«
«Warten Sie.«
«Zu spät.«
«Wir müssen reden!«
«Werden wir. «Jason nahm seinen Arm weg, und gleichzeitig schlug er mit beiden Händen auf die Schulterblätter der Frau, dorthin, wo die Sehnen in die Nackenmuskeln übergingen. Sie klappte zusammen. Im Fallen fing er sie auf und trug sie aus der engen Gasse, wie es ein demütiger Bittsteller mit einem frommen Sozialarbeiter tun würde. Die Morgendämmerung breitete sich immer weiter aus, und mehrere Frühaufsteher, darunter ein junger Jogger, kreuzten den Weg des Mannes, der die Nonne trug.»Sie ist zwei Tage lang bei meiner Frau und den kranken Kindern gewesen, ohne zu schlafen!«flehte das Chamäleon auf französisch.»Kann mir jemand bitte ein Taxi rufen, damit ich sie zurück in ihr Kloster bringen kann?«
«Mach ich!«rief der junge Jogger.»Es gibt einen Stand in der Rue de Sevres.«
«Wirklich sehr freundlich«, sagte Jason dankbar, aber gleichzeitig mißfiel ihm der so vertrauliche junge Mann.
Sechs Minuten später kam das Taxi mit dem Jugendlichen drinnen.»Ich hab dem Fahrer gesagt, Sie hätten Geld«, sagte er beim Aussteigen.»Ich hoffe es jedenfalls.«
«Natürlich. Danke.«
«Sagen Sie der Schwester, was ich getan habe«, fügte der junge Mann hinzu, als er Borowski half, die bewußtlose Frau sanft auf den Rücksitz des Taxis zu legen.»Ich brauche jede nur mögliche Hilfe, wenn meine Zeit gekommen ist.«
«Ich denke, das dauert noch etwas«, sagte Jason und versuchte, das Grinsen des Jungen zu erwidern.
«Ich vertrete meine Firma beim Marathonlauf. «Der junge Mann begann auf der Stelle zu treten.»Nochmals vielen Dank. Ich drücke die Daumen.«
«Sagen Sie der Schwester, sie soll für mich beten!«rief der Sportler und rannte los.
«Zum Bois de Boulogne«, sagte Borowski zum Fahrer, als er die Tür schloß.
«Zum Bois? Dieser Windmacher sagte mir, es sei ein dringender Fall! Daß Sie die Nonne in ein Krankenhaus bringen wollten.«
«Sie hat zuviel Wein getrunken. Was soll ich sagen?«
«Der Bois de Boulogne«, sagte der Fahrer kopfnickend.»Lassen Sie sie ein bißchen Spazierengehen. Ich habe eine Cousine im Kloster von Lyon. Wenn sie eine Woche draußen ist, dann ist sie voll bis zu den Ohren. Soll man ihr einen Vorwurf daraus machen?«
Die Bank an dem Kiesweg im Bois bekam allmählich die ersten Sonnenstrahlen ab. Die Frau in ihrer Klostertracht begann den Kopf zu bewegen.
«Wie geht es, Schwester?«fragte Jason, der neben seiner Gefangenen saß.
«Ich glaube, mich hat ein Panzer gerammt«, antwortete sie blinzelnd und öffnete den Mund, um tief durchzuatmen.»Mindestens ein Panzer.«
«Ich fürchte, darüber wissen Sie besser Bescheid als über die Wohlfahrtsküche der Barmherzigen Schwestern.«
«Richtig.«
«Sie brauchen gar nicht nach Ihrer Waffe zu suchen«, sagte Borowski.»Ich habe sie aus Ihrem sehr teuren Gürtel genommen.«
«Freut mich, daß Sie seinen Wert erkannt haben. Das gehört zu dem, worüber wir sprechen müssen… Da ich nicht auf einer Polizeistation bin, nehme ich an, daß Sie mir zuhören werden.«
«Nur, wenn es meinen Zielen dient. Ich denke, das wird nicht zu schwer zu verstehen sein.«
«Muß ja. Ihren Zielen dienen, wie Sie sagen. Ich habe versagt. Ich bin geschnappt worden. Ich bin nicht dort, wo ich sein müßte, und egal, welche Uhrzeit es ist, das Licht sagt mir, daß es für Entschuldigungen zu spät ist. Im übrigen ist mein Fahrrad…«
«Ich habe es nicht genommen.«
«Ich bin schon gestorben. Ob es nun weg ist oder nicht.«
«Weil Sie verschwunden sind? Nicht dort sind, wo Sie sein sollten?«
«Natürlich.«
«Sie sind die Lavier!«
«Richtig. Ich heiße Lavier, aber ich bin nicht die Frau, die Sie kannten. Das war meine Schwester Jacqueline — ich heiße Dominique. Wir waren beinahe gleichaltrig, und von Kindesbeinen an waren wir uns sehr ähnlich. Sie haben ganz recht mit Neuilly-sur-Seine und dem, was Sie dort gesehen haben. Meine Schwester wurde getötet, weil sie eine eherne Regel gebrochen, eine tödliche Sünde begangen hatte. Sie geriet in Panik und führte Sie zu seiner Frau, seinem am meisten verehrten und nützlichsten Geheimnis.«
«Ich?… Sie wissen, wer ich bin?«
«Ganz Paris — das Paris des Schakals — weiß, wer Sie sind, Monsieur Borowski. Nicht von Angesicht, das versichere ich Ihnen, aber man weiß, daß Sie hier sind, und man weiß, daß Sie hinter Carlos her sind.«
«Und Sie sind Teil von diesem Paris?«
«Bin ich.«
«Gütiger Gott, er hat Ihre Schwester getötet!«
«Dessen bin ich mir bewußt.«
«Und dennoch arbeiten Sie für ihn?«
«Es gibt Zeiten, da hat man keine große Auswahl. Da geht es um Leben oder Tod. Bis vor sechs Jahren, als das Les Classiques in andere Hände überging, war es für den Monseigneur lebenswichtig. Ich nahm den Platz von Jacqui ein…«
«Einfach so?«
«Es war nicht schwer. Ich sah nur etwas jünger aus als sie.«Über das Gesicht der Frau huschte ein kurzes, nachdenkliches Lächeln.»Auf jeden Fall sind Schönheitsoperationen in der Welt der Haute Couture gang und gäbe. Jacqui war angeblich in die Schweiz zu einem Facelifting gefahren… und ich kehrte nach acht Wochen Vorbereitung nach Paris zurück.«
«Wie konnten Sie? Mit dem Wissen… Unglaublich.«
«Ich wußte es zu Anfang noch nicht. Erst später hab ich es erfahren, aber da war es irrelevant, weil ich schon keine Wahl mehr hatte.«
«Ist Ihnen niemals die Idee gekommen, zur Polizei oder zur Sürete zugehen?«
«Wegen Carlos?«Die Frau schaute Borowski an, als müsse sie ein ungehorsames Kind zurechtweisen.»Wie die Briten auf Cap Ferrat sagen: Sie belieben zu scherzen.«
«Also stiegen Sie vergnügt ins Killer-Geschäft ein?«
«Ich wurde erst allmählich eingeweiht, meine Erziehung ging langsam, stückchenweise von statten… Zu Anfang wurde mir gesagt, daß Jacqueline mit ihrem damaligen Liebhaber bei einem Bootsunfall umgekommen sei und daß man mir einen enormen Lohn zahlen würde, wenn ich nur ihren Platz einnähme. Les Classiques war weit mehr als nur ein erlesener Salon… «
«Weit mehr«, stimmte Jason zu.»Von dort sickerten Frankreichs allergeheimsten militärischen und geheimdienstlichen Angelegenheiten zum Schakal durch — über eine Frau, die Gattin eines berühmten Generals.«
«Ich habe das erst viel später durchschaut — nachdem der General sie umgebracht hatte. Villiers hieß er, glaube ich.«
«Richtig. «Jason schaute auf das stille, dunkle Wasser des Teichs auf der anderen Wegseite, auf dem zahllose Wasserlilien schwammen. Alte Bilder überfluteten ihn.»Ich bin derjenige, der ihn fand, sie fand. Villiers saß in einem Stuhl mit hoher Rückenlehne, eine Pistole in der Hand; seine Frau lag auf dem Bett, nackt, blutend, tot. Er wollte sich selbst töten. Es sei die angemessene Exekution für einen Verräter, sagte er, denn seine Verehrung für seine Frau habe sein Urteilsvermögen erblinden lassen, und in dieser Blindheit habe er sein geliebtes Frankreich verraten… Ich überzeugte ihn davon, daß es noch eine