«Wirklich?«sagte Bernardine.»Ich nicht. Klingt wirklich wunderbar. Wie wunderschön.«
«Außerdem«, fuhr die Lavier fort, wobei sie Jason scharf ansah und sich ihre weiße Haube vom Kopf riß, eine Geste, die den Fahrer, der die Szene im Rückspiegel beobachtete, die Augenbrauen heben ließ,»ohne mich, ohne meine Anwesenheit im Meurice in einer völlig anderen Aufmachung wird Carlos nicht mal in die Nähe der Rue de Rivoli kommen. «Bernardine tippte der Frau auf die Schulter und legte den Zeigefinger an die Lippen, wobei er in Richtung Fahrer nickte. Dominique fügte rasch hinzu:»Der Mann, mit dem Sie zu konferieren wünschen, wird nicht dort sein.«
«Das hat etwas für sich«, sagte Borowski, beugte sich vor und sah den Veteranen des Deuxieme an.»Sie hat auch ein Appartement in der Avenue Montaigne, wo sie die Kleider wechseln will, und keiner von uns kann mit ihr da hineingehen.«
«Das stellt ein Dilemma dar, nicht wahr?«antwortete Bernardine.»Es gibt keine Möglichkeit, das Telefon von der Straße aus zu kontrollieren, oder?«
«Ihr Idioten!.. Ich habe keine andere Wahl, als mit euch zu kooperieren, und wenn ihr das nicht sehen könnt, solltet ihr Blindenhunde dabeihaben! Dieser alte, alte Mann hier wird tatsächlich meinen Namen bei der erstbesten Gelegenheit in die Akten des Deuxieme bringen, und wie der berüchtigte Jason Borowski weiß, wenn er das Deuxieme auch nur flüchtig kennt, so werden sich dann gleich mehrere grundlegende Fragen stellen — die übrigens meine Schwester Jacqueline schon gestellt hat: Wer ist dieser Borowski? Gibt es ihn wirklich? Ist er der Mörder aus Asien oder nur eine List, eine Falle? Sie hat mich selbst eines Nachts in Nizza nach viel zu vielen Brandys angerufen — eine Nacht, an die Sie sich sicherlich erinnern, Monsieur le cameleon — ein furchtbar teures Restaurant außerhalb von Paris. Sie bedrohten sie… im Namen mächtiger, namenloser Leute drohten Sie ihr! Sie verlangten, daß sie ausplaudern sollte, was sie über eine bestimmte Person aus ihrer Bekanntschaft wüßte — wer es damals war, das weiß ich nicht mehr —, aber Sie jagten ihr gehörig Angst ein. Sie sagte, daß Sie verrückt schienen, daß Ihre Augen glasig wurden und Sie Worte in einer Sprache gebrauchten, die sie nicht verstand.«
«Ich erinnere mich«, unterbrach Borowski eisig.»Wir aßen gemeinsam, und ich bedrohte sie, und sie hatte Angst. Sie ging auf die Damentoilette, bezahlte jemanden, um einen Anruf für sie zu erledigen, und ich mußte verschwinden.«
«Und jetzt ist das Deuxieme mit jenen mächtigen namenlosen Leuten verbündet?«Dominique Lavier schüttelte wiederholt den Kopf und sprach noch leiser.»Nein, Messieurs, ich habe zu überleben gelernt, und dagegen kämpfe ich nicht an. Man muß wissen, wann man den Schwarzen Peter weiterreicht.«
Nach einer kurzen Pause des Schweigens sagte Bernardine:»Wie ist Ihre Adresse in der Avenue Montaigne? Ich werde sie dem Fahrer geben, aber bevor ich es tue, sollen Sie eines verstehen, Madame. Wenn sich Ihre Worte als falsch erweisen, dann wird der wirkliche Horror des Deuxieme über Sie kommen.«
Marie saß am Tisch in ihrem Hotelzimmer und las die Zeitung. Mit ihren Gedanken war sie ständig woanders, sie konnte sich nicht konzentrieren. Die Angst hatte sie wach gehalten, nachdem sie kurz nach Mitternacht zurückgekehrt war. Sie war in fünf verschiedenen Cafes gewesen, die sie und David häufig besucht hatten. Endlich, gegen vier Uhr früh, nach vielem Husten und Sich-Herumwälzen, hatte die Erschöpfung sie übermannt. Bei brennender Nachttischlampe war sie eingeschlafen, und sechs Stunden später wurde sie durch eben dieses Licht geweckt. So lange hatte sie seit der ersten Nacht auf Tranquility nicht mehr geschlafen, was jedoch schon ferne Vergangenheit für sie war. Nur nicht an die Kinder denken! Das tut zu weh! Denke an David… Nein, denke an Jason Borowski! Wo? Konzentrier dich!
Sie legte die Pariser Ausgabe der Herald Tribüne hin und schenkte sich eine dritte Tasse Kaffee ein. Sie sah zur Flügeltür, die auf einen kleinen Balkon mit Blick auf die Rue de Rivoli führte. Es beunruhigte sie, daß sich der strahlende Morgen in einen so trüben, grauen Tag verwandelt hatte. Bald würde es Regen geben, was ihre Suche in den Straßen noch schwieriger machen würde. Resigniert schlürfte sie ihren Kaffee, stellte die Tasse wieder auf die Untertasse und bedauerte, daß es nicht ein einfacher Becher war, wie David und sie ihn in ihrem Landhaus in Maine bevorzugten. Oh, Gott, würden sie jemals wieder dort sein können? Denk nicht an solche Dinge! Konzentrier dich!
Sie nahm die Tribüne wieder hoch und blätterte ziellos die Seiten durch, sah aber nur isolierte Worte, keine Sätze oder Abschnitte, konnte keinen durchgehenden Gedanken oder Sinn ausmachen, nur Worte. Dann sprang ihr ein Wort am Ende einer sinnlosen Kolumne ins Auge, eine einzige sinnlose Zeile am Ende einer sinnlosen Seite. Das Wort war» Miemom «und danach eine Telefonnummer, und sie wollte gerade schon weiterblättern, als ein Signal aus einem anderen Teil ihres Hirn» Stop!«schrie.
Miemom… mommy — umgedreht von einem Kind, das seine ersten sprachlichen Versuche machte. Miemom! Jamie — ihr Jamie! Der lustige umgedrehte Name, mit dem er sie mehrere Wochen lang gerufen hatte! David hatte seinen Spaß daran gehabt, während sie fürchtete, daß ihr Sohn unter Sprachstörungen leiden könnte.
«Vielleicht ist er einfach durcheinander, miemom«, hatte David lachend gesagt.
David! Sie schlug die Seite wieder auf; es war der Wirtschaftsteil der Zeitung, der Teil, über dem sie instinktiv jeden Morgen beim Kaffee brütete. David schickte ihr eine Botschaft! Sie stieß den Stuhl zurück, der krachend umfiel, schnappte die Zeitung und rannte zum Telefon. Mit zitternden Fingern wählte sie die Nummer. Keine Antwort. Weil sie dachte, sie habe womöglich im Eifer einen Fehler gemacht, wählte sie nochmals, langsam und sorgfältig.
Keine Antwort. Aber es war David, sie fühlte es, sie wußte es! Er hatte am Trocadero nach ihr gesucht, und jetzt verwendete er einen kurz benutzten Spitznamen, den nur sie beide kennen konnten! Meine Liebe, meine Liebe, ich habe dich gefunden… Sie wußte auch, daß sie nicht in der Enge des Zimmers bleiben konnte, hin- und hergehend und alle paar Minuten die Nummer wählend, um bei jedem unbeantworteten Klingelzeichen verrückt zu werden. Wenn du gestreßt bist und sich alles dreht, bis du glaubst, daß du explodierst, finde einen Ort, wo du dich bewegen kannst, ohne beobachtet zu werden. Bewege dich! Das ist wichtig. Du darfst deinen Kopf nicht explodieren lassen. Eine der Lektionen von Jason Borowski. In ihrem Kopf drehte sich alles. Sie zog sich schneller an als jemals zuvor in ihrem Leben. Sie riß die Botschaft aus der Zeitung heraus und verließ das bedrückende Zimmer. Sie zwang sich, nicht zum Fahrstuhl zu rennen. Sie brauchte die Menschenmenge auf den Straßen von Paris, wo sie sich bewegen konnte, ohne bemerkt zu werden. Von einem Telefonhäuschen zum nächsten.
Die Fahrt hinunter in die Lobby war endlos und unerträglich, vor allem wegen eines amerikanischen Ehepaars — er mit Kameraausrüstung, sie mit violetten Augenlidern und Wasserstofffrisur, die in Zement gegossen schien —, das sich darüber beklagte, daß nicht genügend Leute in Paris englisch sprächen. Endlich öffnete sich die Fahrstuhltür, und Marie trat rasch hinaus in die überfüllte Lobby des Meurice.
Als sie den Marmorboden zur großen Glastür des schmuckreichen Eingangs überquerte, hielt sie plötzlich unfreiwillig inne, als ein älterer Mann in einem dunklen Nadelstreifenanzug den Mund aufsperrte und sich aus einem tiefen Ledersessel rechts von ihr vorbeugte. Der alte Mann starrte sie an, seine schmalen Lippen erstaunt geöffnet, mit entsetztem Blick.
«Marie St. Jacques!«flüsterte er.»Mein Gott, verschwinden Sie hier!«
«Ich bitte Sie… was?«
Der ältere Franzose erhob sich schnell, aber mühevoll aus dem Sessel, wobei er mit unauffälligen Blicken die Lobby absuchte.»Sie dürfen hier nicht gesehen werden, Mrs. Webb«, sagte er mit immer noch flüsternder Stimme, aber in nicht weniger barschem und befehlendem Ton.»Sehen Sie mich nicht an! Sehen… Sie auf Ihre Uhr. Senken Sie Ihren Kopf. «Der Veteran vom Deuxieme schaute weg, nickte wahllos einigen