Er kroch durch das Tor, das er für Marie geöffnet hatte, rollte nach rechts über den Boden und kämpfte sich auf allen vieren den Zaun entlang. Er war Delta, aus Saigons Medusa… Er konnte es schaffen! Hier gab es keinen schützenden Dschungel, aber es gab etwas, das er verwenden konnte, was Delta nutzen konnte — die Dunkelheit, die unterbrochenen Schattenblöcke der zahllosen Wolken, die das Mondlicht verdeckten. Nutze alles! Das haben sie dir doch beigebracht… vor so vielen Jahren…
Vergiß die Zeit! Tu es! Das Tier, das nur ein paar Meter von dir entfernt ist, will deinen Tod… den Tod deiner Frau, den Tod deiner Kinder. Den Tod!
Es war die Schnelligkeit, die aus purer Wut entsteht, die ihn vorwärtstrieb, von der er besessen war, und er wußte, daß er, wenn er gewinnen wollte, schnell gewinnen mußte, mit all der Schnelligkeit, die er zur Verfügung hatte. Eilig kroch er den Zaun entlang, der die Rollbahn umgab, vorbei an der Ecke des Terminals, bereit für den Augenblick, entdeckt zu werden. Die tödliche Maschinenpistole war immer noch in seiner Hand, sein Finger am Abzug. Er sah einen Haufen wildgewachsener Büsche vor zwei dicken Bäumen, nicht weiter als zehn Meter entfernt. Wenn er die erreichen konnte, war der Vorteil auf seiner Seite.
Er erreichte die Büsche. Und in diesem Moment hörte er ein gewaltiges Bersten von Glas, gefolgt von einem weiteren Feuerstoß — diesmal so anhaltend, daß das Magazin auf einen Schlag leer sein mußte. Er war nicht gesehen worden. Die Gestalt am Fenster war zurückgetreten, um nachzuladen, die ganze Konzentration auf diese Aufgabe gerichtet, nicht auf die Möglichkeit einer Frucht. Auch Carlos wird alt und verliert seine Finesse, dachte Jason Borowski. Wo war das innere Aufflammen, das zu einer solchen Operation gehörte? Wo waren die wachsamen, umherwandernden Augen, die Waffen in völliger Dunkelheit nachluden?
Dunkelheit. Eine Wolkendecke verbarg den gelben Schein des Mondes. Da war die Dunkelheit. Er schob sich über den Zaun und versteckte sich hinter den Büschen, dann rannte er zu dem ersten der beiden Bäume, hinter dem er aufrecht stehen, die Szenerie überblicken und seine Möglichkeiten bedenken konnte.
Irgend etwas stimmte nicht. Er bemerkte eine Primitivität, die er nicht mit dem Schakal in Verbindung bringen konnte. Der Attentäter hatte den Terminal isoliert, aber es fehlten die feineren Aspekte in seinem mörderischen Verhalten. Es fehlte die Raffinesse, statt dessen gab es nichts als brutale Gewalt.
Die Gestalt am zerschlagenen Fenster ließ sich rückwärts gegen die Hauswand fallen und suchte noch immer ein neues Magazin in ihrer Tasche. Jason rannte aus dem Schutz der Bäume hervor, die MAC-10 auf Dauerfeuer, ließ den Dreck vor dem Killer explodieren, dann kreisten die Kugeln seinen Körper ein.
«Das war's!«rief er, als er sich dem Attentäter näherte.»Wenn ich nur einmal den Finger krumm mache, bist du tot, Carlos — falls du der Schakal bist!«
Der Mann neben dem zerschlagenen Fenster warf seine Waffe zu Boden.»Ich bin es nicht, Mr. Borowski«, sagte der Vollstrecker aus Larchmont im Staate New York.»Wir haben uns schon getroffen, aber ich bin nicht der Mann, für den Sie mich halten.«
«Runter auf den Boden, du Scheißkerl!«Der Killer tat es, als Jason sich ihm näherte.»Spreiz die Beine und Arme!«Der Befehl wurde befolgt.»Heb deinen Kopf!«
Der Mann tat es, und Borowski starrte in das Gesicht, das vom fernen Schein der gelben Lichter auf der Rollbahn nur schwach beleuchtet wurde.
«Sehen Sie jetzt?«sagte Mario.»Ich bin nicht der, für den Sie mich halten.«
«Mein Gott«, flüsterte Jason, seine Ungläubigkeit nur allzu offensichtlich.»Du warst an der Auffahrt in Manassas. Du hast versucht, Kaktus zu töten und dann mich!«
«Ein Auftrag, Mr. Borowski, nichts weiter.«
«Was ist mit dem Tower? Dem Fluglotsen im Tower!«
«Ich töte nicht wahllos. Als das Flugzeug von Poitiers die Landebestätigung hatte, habe ich ihm gesagt, er soll sich davonmachen… Verzeihen Sie, aber Ihre Frau war auch auf der
Liste. Zum Glück war das jenseits meiner Möglichkeiten. Schließlich ist sie eine Mutter.«
«Wer, zum Teufel, bist du?«
«Ich habe es Ihnen gerade gesagt. Ich bin für diesen Job engagiert worden.«
«Ich habe schon Bessere gesehen.«
«Vielleicht spiel ich nicht in Ihrer Liga, aber ich leiste verläßliche Arbeit für die Organisation.«
«Himmel, du bist Medusa!«
«Den Namen hab ich schon gehört, aber das ist alles, was ich Ihnen sagen kann… Lassen Sie mich eine Sache klarstellen, Mr. Borowski. Ich werde meine Frau nicht als Witwe zurücklassen oder meine Kinder als Waisen, nur für diesen Auftrag. Sie bedeuten mir zuviel.«
«Du wirst hundertfünfzig Jahre im Gefängnis absitzen, und das auch nur, wenn du in einem Staat angeklagt wirst, der die Todesstrafe abgeschafft hat.«
«Nicht nach allem, was ich weiß, Mr. Borowski. Man wird sich um meine Familie und mich sehr wohl kümmern — ein neuer Name, vielleicht eine hübsche Farm in Wyoming. Sehen Sie, ich wußte, daß dieser Augenblick kommen würde.«
«Weißt du, was passiert ist, du Scheißer? Ein Freund von mir ist da drinnen schwer angeschossen worden! Du hast es getan!«
«Dann ein Waffenstillstand?«sagte Mario.
«Was meinst du damit, verflucht?«
«Eine halbe Meile von hier habe ich einen schnellen Wagen. «Der Killer aus Larchmont deutete auf ein rechteckiges Instrument in seinem Gürtel.»Er kann in weniger als einer Minute hiersein. Ich bin sicher, der Fahrer kennt das nächstgelegene Krankenhaus.«
«Tu es!«
«Schon passiert, Mr. Borowski«, sagte Mario und drückte einen Knopf.
Morris Panov war in den Operationssaal gefahren worden. Louis DeFazio lag immer noch auf einer Bahre, nachdem man festgestellt hatte, daß seine Verletzungen leichterer Natur waren. Und nach Rücksprache zwischen Washington und dem Quai d'Orsay befand sich der Verbrecher, den man nur als Mario kannte, im Gewahrsam der amerikanischen Botschaft in Paris.
Ein Doktor in weißem Kittel kam in den Warteraum des Krankenhauses, und Conklin und Borowski standen ängstlich auf.
«Ich möchte nicht so tun, als wäre ich der Bote einer frohen Kunde«, sagte der Arzt auf französisch,»denn das wäre sicher so nicht richtig. Beide Lungen Ihres Freundes sind durchlöchert, ebenso die Herzwand. Seine Überlebenschancen stehen im besten Fall vierzig zu sechzig leider gegen ihn. Aber er ist ein Mann mit einem starken Willen, der leben möchte. Manchmal bedeutet das mehr als alle medizinischen Schwarzmalereien. Was kann ich Ihnen sonst noch sagen?«
«Danke, Doktor. «Jason wandte sich ab.
«Ich müßte mal ein Telefon benutzen«, sagte Alex zu dem Chirurgen.»Ich sollte es von der Botschaft aus tun, aber es bleibt beim besten Willen keine Zeit. Gibt es irgendeine Garantie dafür, daß hier niemand mithört?«
«Ich könnte mir vorstellen, daß Sie hier jede Garantie dafür haben«, erwiderte der Arzt.»Wir wüßten gar nicht, wie wir das machen sollten. Nehmen Sie mein Büro, bitte.«
«Peter?«
«Alex!«rief Holland.»Alles in Ordnung? Ist Marie abgeflogen?«
«Um deine erste Frage zu beantworten, nein, es ist nicht alles in Ordnung. Und was Marie betrifft, kannst du davon ausgehen,
einen panischen Anruf von ihr zu bekommen, sobald sie Marseille erreicht hat.«
«Was?«
«Sag ihr, daß wir okay sind, daß David nicht verletzt ist…«
«Wovon redest du?«unterbrach ihn der Chef der CIA.
«Wir sind in einen Hinterhalt geraten, als wir auf das Flugzeug aus Poitiers warteten. Leider muß ich sagen, daß Mo Panov in einem sehr schlechten Zustand ist, so schlecht, daß ich im Augenblick gar nicht daran denken mag. Wir sind in einem Krankenhaus, und der Doktor klingt nicht gerade ermutigend.«
«Mein Gott, Alex, das tut mir leid.«