«So sicher, wie er mich töten könnte. Mit großem Bedauern — falls die Situation es nötig machen würde. Wir sind Profis. Davon gehen wir aus, wenn oft auch nur zögernd.«
«Ich kann Sie beide nicht verstehen.«
«Versuchen Sie es nicht, Mr. Borowski, soweit sind Sie noch nicht. Sie sind nahe dran, aber Sie sind noch nicht da.«
«Würden Sie das bitte erklären?«
«Sie sind auf dem Scheitelpunkt, Jason — darf ich Sie Jason nennen?«
«Bitte.«
«Sie sind fünfzig, mehr oder weniger, korrekt?«
«Korrekt. Ich werde in ein paar Monaten einundfünfzig. Und?«
«Aleksej und ich sind in den Sechzigern. Haben Sie eine Vorstellung davon, was für ein Sprung das ist?«
«Wie könnte ich?«
«Lassen Sie es mich Ihnen erklären. Sie sehen sich immer noch als jüngeren Mann, den postadoleszenten Mann, und in vielerlei Hinsicht haben Sie recht. Die motorische Kontrolle ist da, der Wille ist da, Sie sind immer noch Herr über Ihren Körper. Dann plötzlich, und so stark der Wille und der Körper auch geblieben sein mögen, beginnt der Verstand langsam und heimtückisch die Notwendigkeit abzulehnen, unmittelbar eine Entscheidung zu treffen. Einfach gesagt, es ist uns mehr egal. Sind wir dazu verdammt, oder kann man uns gratulieren, daß wir überlebt haben?«
«Ich glaube, Sie haben gerade gesagt, daß Sie Alex nicht töten könnten.«
«Verlassen Sie sich nicht darauf, Jason Borowski oder David, wer Sie auch sein mögen.«
Conklin kam deutlich hinkend durch die Tür und zuckte vor Schmerz.»Gehen wir«, sagte er.
«Hast du ihn wieder falsch geschnürt?«fragte Jason.»Soll ich… «
«Vergiß es«, sagte Alex ärgerlich.»Man muß ein Schlangenmensch sein, um das gottverdammte Ding richtig festzumachen.«
Borowski verstand. Er vergaß jeden weiteren Versuch von seiner Seite, die Prothese zu richten. Wieder sah Krupkin Alex mit dieser seltsamen Mischung aus Trauer und Neugier an, dann sprach er schnell.»Der Wagen parkt ein Stück die Straße rauf in der Swerdlowsk. Da fällt er weniger auf. Ich lasse ihn holen.«
«Danke«, sagte Conklin.
Die ausschweifende Wohnung an der vielbefahrenen Sadowaja war eine unter vielen in einem alten, steinernen Gebäude, das wie das Metropol die großartigen architektonischen Exzesse des alten russischen Kaiserreiches widerspiegelte. Die Wohnungen wurden hauptsächlich für Besuche von Würdenträgern genutzt — und abgehört —, und die
Zimmermädchen, Portiers und Hausmeister wurden regelmäßig vom KGB befragt, wenn sie nicht ohnehin direkt beim Komitet angestellt waren. Die Wände waren mit rotem Velours bedeckt, die robusten Möbel erinnerten an das ancien regime. Allerdings stand zur Rechten des gewaltigen, verzierten Kamins ein Gegenstand, der sich aus all dem heraushob wie der Alptraum eines Inneneinrichters: eine große Fernsehtruhe mit
Bandmaschine in allen gängigen Videosystemen.
Der zweite Widerspruch zur Einrichtung war ein kräftig gebauter Mann in einer verknitterten Uniform, die am Kragen geöffnet und voller Flecke von Überresten kürzlich eingenommener Mahlzeiten war. Sein grobes Gesicht war rund, sein gräuliches Haar bis kurz auf den Schädel geschoren, und ein fehlender Zahn, umgeben von verfärbten Kollegen, deutete auf eine Aversion gegen Zahnärzte hin. Es war das Gesicht eines Bauern, die schmalen, ständig blinzelnden Augen zeugten von ländlicher Intelligenz. Es war Krupkins Kommissar Nummer eins.
«Mein Englisch ist nicht gut«, verkündete der uniformierte Mann und nickte seinen Besuchern zu,»aber ich gut verstehen. Außer ich habe für Sie keinen Namen, keinen offiziellen Rang. Nennen Sie mich Colonel, ja? Es ist unter meinem Rang, aber alle Amerikaner glauben, alle Sowjets im Komitet sind Colonel, da? Okay?«
«Ich spreche russisch«, erwiderte Alex.»Wenn es für Sie leichter ist, übersetze ich für meinen Kollegen.«
«Ha!«röhrte der Colonel und lachte.»Krupkin kann Sie also nicht für dumm verkaufen, ja?«
«Nein, er kann mich nicht für dumm verkaufen, nein.«
«Ist gut. Er spricht schnell, da? Sogar auf russisch kommen seine Worte wie verirrte Kugeln.«
«Auf französisch genauso, Colonel.«
«Da wir gerade davon reden«, unterbrach Dimitrij.»Können wir zur Sache kommen, Genosse? Unser Mitstreiter am Dserschinskij sagte, wir sollten sofort herkommen.«
«Sofort. «Der KGB-Mann nahm eine Fernbedienung und wandte sich den anderen zu.»Ich werde englisch sprechen, ist gute Übung… Kommen Sie. Es ist alles auf einer Kassette. Material, das Männer und Frauen aufgenommen haben, die Krupkin ausgesucht hat, unseren Leuten zu folgen, die das Französische sprechen.«
«Leute, die nicht bereits auf selten des Schakals stehen konnten«, stellte Krupkin klar.
«Sehen Sie!«beharrte der Bauern-Colonel und drückte auf einen Knopf der Fernbedienung.
Der Bildschirm füllte sich mit Leben, die Anfangsbilder roh und zusammenhanglos. Die meisten schienen freihändig per Videokamera aus fahrenden Autos heraus aufgenommen worden zu sein. Eine Szene nach der anderen zeigte bestimmte Männer, die durch die Moskauer Straßen liefen oder in offizielle Fahrzeuge einstiegen, durch die Stadt und in mehreren Fällen außerhalb der Stadt über Landstraßen fuhren oder gefahren wurden. In jedem Fall trafen sich die Objekte mit anderen Männern und Frauen, wobei per Zoomobjektiv in aller Regel kurz die Gesichter herausgehoben wurden. Eine ganze Anzahl von Aufnahmen war innerhalb von Gebäuden gemacht worden, die Szenen trübe und dunkel — das Ergebnis von ungenügendem Licht und ungeschickt gehaltenen, versteckten Kameras.
«Die da ist teure Hure!«lachte der Colonel, als ein Mann in den späten Sechzigern von einer sehr viel jüngeren Frau in einen Fahrstuhl begleitet wurde.»Das ist das Hotel Soltschenij an der Warscharskoje. Ich werde persönlich die Rechnungsbelege des Generals prüfen und einen loyalen Verbündeten finden, da?«
Das zusammenhanglose, wahllos geschnittene Band lief weiter, während Krupkin und die beiden Amerikaner der scheinbar end- und zwecklosen Aufzeichnung müde wurden. Dann sah man plötzlich die Außenaufnahme einer riesigen Kathedrale, Menschenmassen auf dem Pflaster, das Licht deutete auf den frühen Abend hin.
«Die Kathedrale des Heiligen Basilikus auf dem Roten Platz«, sagte Krupkin.»Ist jetzt ein Museum, und ein sehr gutes, aber hin und wieder hält ein Zelot, gewöhnlich ein Ausländer, einen kleinen Gottesdienst ab. Niemand hindert ihn daran, was die Zeloten natürlich gerne hätten.«
Der Bildschirm wurde wieder trübe, der zitternde Brennpunkt schwang kurz und heftig herum. Die Kamera war jetzt in der Kathedrale, und der Agent, der sie bediente, wurde in der Menschenmenge angerempelt. Dann wurde das Bild ruhig, vielleicht lehnte er sich gegen eine Säule. Das Bild zeigte einen älteren Mann, das Haar weiß, im Kontrast zu dem leichten, schwarzen Regenmantel, den er trug- Er lief einen Seitengang hinunter und betrachtete gedankenverloren eine Reihe von Ikonen und die majestätischen Buntglasfenster.
«Rodtschenko«, sagte der Bauern-Colonel mit kehliger Stimme.
Der Mann auf dem Bildschirm ging auf etwas zu, das wie eine große, steinerne Ecke der Kathedrale aussah, in der zwei dicke Kerzen auf Podesten sich bewegende Schatten an die Wände warfen. Die Videokamera bewegte sich ruckend aufwärts. Der Kameramann war auf irgend etwas gestiegen. Plötzlich wurde das Bild detaillierter, die Gestalten größer, der Bildausschnitt fuhr näher heran, schob sich durch die Massen von Touristen. Das weißhaarige Objekt trat auf einen anderen Mann zu, einen Mann in priesterlicher Robe — kahl, dünn, mit düsterer Miene.
«Das ist er!«rief Borowski.»Das ist Carlos!«
Dann erschien ein dritter Mann auf dem Bildschirm, gesellte sich zu den beiden anderen, und Conklin schnappte nach Luft.