Die Jagd begann. Wo war er? Es gab eine weitere Ausgangstür am anderen Ende des langen Korridors, den Jason betreten hatte, und dazu vielleicht fünfzehn bis achtzehn Gästezimmer entlang des Ganges. Carlos war kein Dummkopf, und ein verwundeter Carlos würde sämtliche Taktiken anwenden, die er sich in seinem langen Killerleben angeeignet hatte — bis er den Mord geschafft hatte, den er mehr wollte als sein eigenes Leben… Borowski erkannte plötzlich, wie genau seine Analyse war, denn er beschrieb sich selbst. Was hatte der alte Fontaine auf Tranquility Island in diesem abgelegenen Raum gesagt, von dem aus sie die Prozession der Priester beobachtet hatten, wohl wissend, daß der Schakal einen von ihnen gekauft hatte?» Zwei alternde Löwen jagen einander und kümmern sich nicht darum, wer im Kreuzfeuer getötet wird«-so oder ähnlich waren Fontaines Worte gewesen, ein Mann, der sein Leben für einen anderen geopfert hatte, den er kaum kannte, weil sein eigenes Leben vorbei war, nachdem die Frau, die er liebte, gestorben war. Als Jason langsam und vorsichtig den Flur zur ersten Tür auf der linken Seite hinunterging, fragte er sich, ob er auch so gehandelt hätte. Er wollte unbedingt leben, mit Marie und den Kindern, aber wenn sie tot wäre, wenn sie tot wären… was wäre das Leben dann noch wert?
Keine Zeit für solche Gedanken, David Webb! Ich hab keine Verwendung für dich, du Schwächling! Laß mich in Ruhe! Ich muß einen Raubvogel aufscheuchen, den ich schon seit dreizehn Jahren jage. Seine Klauen sind schar wie Rasierklingen, und er hat schon zu oft getötet, um jetzt will er mich — dich. Laß mich in Ruhe!
Blut. Auf dem düsteren, dunkelbraunen Teppich glänzten im trüben Licht feuchte Tropfen. Borowski hockte sich in und betastete sie. Ohne Unterbrechung führten sie an der ersten Tür vorbei, dann an der zweiten… dann kreuzten sie den Flur, jetzt mit verändertem Muster, nicht mehr gleichmäßig, als wäre die Wunde lokalisiert, die Blutung zum Teil gestillt. Die Spur führte auch an der sechsten Tür auf der rechten Seite vorbei und an der siebten… Dann hörten die schimmernden roten Tropfen plötzlich auf. Nein, nicht ganz. Ein Tröpfeln führte nach links, kaum zu sehen, und wieder quer über den Flur. Da! Ein schwacher roter Fleck direkt über dem Griff an der achten Tür links nicht mehr als sechs Meter vom Treppeneingang des Korridors entfernt. Carlos mußte hinter dieser Tür sein und hielt da drinnen womöglich jemanden als Geisel fest.
Präzision war jetzt alles, jede Bewegung, jedes Geräusch… Borowski atmete gleichmäßig durch, während er sich dazu zwang, seine verspannte Muskulatur zu lockern. Leise lief er den Gang hinunter. Er kam an eine Stelle, die etwa dreißig Schritte von der achten Tür links entfernt war, und drehte sich um, denn plötzlich nahm er den Chor unterdrückter, gelegentlicher Schluchzer und Schreie wahr, die aus den verschlossenen Eingängen des Hotelkorridors drangen. Befehle waren gegeben worden; in eine Sprache gebettet, die weitab von Krupkins Vorstellungen lag:»Bleiben Sie bitte in Ihren Zimmern. Lassen Sie niemanden herein. Unsere Leute ermitteln. «Es hieß immer» unsere Leute«, niemals» die Polizei«, niemals» die Behörden«. Bei solchen Bezeichnungen kam Panik auf. Und Panik war genau das, was Delta one im Sinn hatte.
Er hob seine Graz Burja, zielte auf einen der verzierten Kronleuchter, feuerte zweimal und schrie gleichzeitig voller Wut, während die ohrenbetäubenden Explosionen das zersprungene Glas begleiteten, das von der Decke rieselte.»Da läuft er! Ein schwarzer Anzug!«Trampelnd und mit lauten, übertriebenen Schritten rannte Borowski den Korridor zur achten Tür auf der Linken hinunter, dann an der Tür vorbei, und noch einmal rief er:»Der Ausgang… der Ausgang!«Abrupt blieb er stehen, feuerte einen weiteren Schuß in einen der Kronleuchter, um so das Fehlen der trampelnden Füße zu überdecken. Dann drehte er sich um, warf seinen Rücken gegen die der achten Tür gegenüberliegende Wand, stieß sich ab und schleuderte seinen Körper mit derartiger Gewalt gegen die Tür, daß sie durchbrach und aus den Angeln krachte. Mit erhobener Waffe ließ er sich auf den Boden fallen, bereit, sofort zu schießen.
Er hatte einen Fehler gemacht. Er wußte es sofort, eine endgültige Falle war in Vorbereitung! Er hörte, wie irgendwo draußen eine andere Tür geöffnet wurde — entweder hörte er es oder wußte es instinktiv! Wütend rollte er zur Seite, wieder und immer wieder, seine Beine krachten in eine Bodenlampe, stießen sie zur Tür, seine panischen, blitzschnellen Augen sahen flüchtig ein älteres Paar, das sich in der gegenüberliegenden Ecke aneinander festhielt.
Die mit einem weißen Talar bekleidete Gestalt platzte ins Zimmer, die Automatic spuckte wahllos, das Stakkato der Schüsse war ohrenbetäubend. Borowski feuerte immer wieder in die weiße Masse hinein, während er an die linke Wand sprang und wußte, daß er — wenn auch nur für den Bruchteil einer Sekunde — rechts im toten Winkel des Killers war. Aber dieser Bruchteil genügte!
Der Schakal war an der Schulter getroffen, seiner rechten Schulter! Die Waffe sprang ihm buchstäblich aus der Hand, als er den Unterarm hochriß, und seine Finger entkrümmten sich mit spastischen Bewegungen unter der Wucht des Einschlags der Graz Burja. Ohne seine Bewegung abzustoppen, schwang der Schakal herum, die blutige weiße Robe öffnete sich, blähte sich wie ein Segel, als er mit der linken Hand nach der tiefen Fleischwunde griff und Jason wütend die Bodenlampe ins Gesicht trat.
Borowski feuerte erneut, halb geblendet vom fliegenden Schirm der schweren Lampe, seine Waffe abgelenkt vom dicken Lampenfuß. Der Schuß spielte verrückt. Jetzt hielt er seine Hand ruhig und drückte noch einmal ab, doch hörte er nur die gräßliche Endgültigkeit eines scharfen, metallischen Klickens — sein Magazin war leer! Er kämpfte sich in die Hocke und hechtete nach der plumpen, häßlichen Automatic, als Carlos in seiner weißen Robe durch den zerschlagenen Türrahmen in den Korridor rannte. Jason wollte aufspringen, aber sein Knie versagte ihm den Dienst. Er brach unter seinem eigenen Gewicht zusammen. Oh, Himmel! Er kroch zum Rand des Bettes und schwang sich über die abgezogenen Laken zum Telefon. Es war kaputt, der Schakal hatte es zerschossen!
Ein Geräusch! Laut und abrupt. Der Notriegel am Treppeneingang des Korridors war aufgeknallt worden, die schwere Eisentür krachte in die Betonwand des Treppenabsatzes. Der Schakal rannte die Stufen zur Halle hinunter. Falls die Rezeption auf Conklin gehört hatte, saß er damit in der Falle!
Borowski sah das ältere Ehepaar in der Ecke an, betroffen von der Tatsache, daß der alte Mann seine Frau mit seinem eigenen Körper schützte.»Alles in Ordnung«, sagte er und versuchte, sie zu beruhigen, indem er leiser sprach.»Ich weiß, daß Sie mich wahrscheinlich nicht verstehen, ich spreche Ihre Sprache nicht, aber Sie sind jetzt in Sicherheit.«
«Wir sprechen auch kein Russisch«, gab der Mann, ein Engländer, zu und reckte seinen Hals, während Jason aufzustehen versuchte.»Vor dreißig Jahren hätte ich an dieser Tür gestanden! Achte Armee mit Monty, wissen Sie. Einfach grandios in El Alamein. Um es zu umschreiben, man wird eben älter, wie man so sagt.«
«Das möchte ich lieber nicht hören, General…«
«Nein, nein, nur ein Brigadier…«
«Okay!«Borowski kroch über das Bett, testete sein Knie. Was es auch war, es war wieder eingeschnappt.»Ich muß ein Telefon finden!«
«Ehrlich gesagt, was mich am meisten aufgeregt hat, war diese gottverdammte Robe!«fuhr der Veteran von El Alamein fort.»Schändlich, möchte ich sagen.«
«Wovon reden Sie?«
«Die weiße Robe, Freund! Die muß von Binky gewesen sein — das ist das Paar gegenüber, mit dem wir reisen —, er muß sie in diesem wundervollen Beau Rivage in Lausanne geklaut haben. Ist schon schlimm genug, aber sie auch noch diesem Schwein zu geben ist unverzeihlich!«