Ein Krachen! Metall schlug auf Metall, Glas zerschmetterte Glas. Das laute, scharfe Geräusch kam vom weit entfernten Parkplatz. Irgend etwas war dem Komitet-Wagen mit Alex und Krupkin zugestoßen. Der junge Fahrer vom Überfallkommando mußte auf dem trockenen Staub des Platzes in ein anderes Fahrzeug geschleudert sein. Mit diesem Geräusch als Vorwand, ging Jason die Straße hinunter, Conklins Bild kam ihm sofort in den Sinn, und er mimte ein Hinken, damit seine Waffe möglichst wenig zu sehen war. Er drehte seinen Kopf in der Erwartung, die beiden Soldaten und die Frau die Straße des
Arsenals hinunter zum Unfall laufen zu sehen, aber er sah nur, wie die drei in die andere Richtung liefen und sich jeder Verwicklung in die Sache entzogen. Offensichtlich wurden wertvolle Pausen im militärischen Tagesplan eifersüchtig verteidigt.
Borowski hörte auf zu hinken, brach durch die Hecke und rannte zu dem Betonweg, der sich bis zur Ecke des riesigen Gebäudes erstreckte, nahm Geschwindigkeit auf, atmete schwer und mit steigender Frequenz. Seine Waffe war jetzt offen zu sehen. Er kam an das Ende des Weges, seine Brust hob und senkte sich, die Adern an seinem Hals schienen bereit zu platzen, während ihm der Schweiß herunterlief, seinen Kragen und sein Hemd durchnäßte. Keuchend legte er die AK-47 an, den Rücken gegen die Mauer des Gebäudes gepreßt, dann wirbelte er um die Ecke auf den Parkplatz, verblüfft vom Anblick, der sich ihm bot. Seine trampelnden Füße hatten in Verbindung mit der Angst, die das Blut in seinen Schläfen hatte hämmern lassen, jedes Geräusch überdeckt. Er wußte, daß das, was er da sah, was Übelkeit in ihm aufsteigen ließ, das Ergebnis mehrerer Schüsse aus einer mit einem Schalldämpfer versehenen Waffe sein mußte. Delta one verstand. Er hatte so etwas schon vor vielen Jahren gesehen. Es gab Umstände, unter denen Morde leise geschehen mußten…
Der junge KGB-Fahrer lag neben dem Kofferraum der dunkelgrünen Limousine am Boden. Die Wunden an seinem Kopf zeigten deutlich, daß er tot war. Der Wagen war in die Seite eines Busses von der Sorte geprallt, mit denen man Arbeiter zu ihren Arbeitsplätzen und wieder zurück beförderte. Wie oder warum der Unfall geschehen war, konnte Borowski nicht verstehen. Ebensowenig wußte er, ob Alex und Krupkin überlebt hatten. Die Scheiben des Wagens waren mehrfach durchschossen, und drinnen gab es kein Zeichen von Leben, beides Umstände, die das Schlimmste befürchten ließen — wenn auch nicht mit abschließender Gewißheit. Allerdings verstand das Chamäleon, daß es das, was es da sah, nicht an sich herankommen lassen durfte — Gefühle kamen nicht in Frage! Nicht jetzt!
Denk nach! Was tun? Wie vorgehen? Krupkin hatte gesagt, im Arsenal arbeiteten» mehrere Dutzend Männer und Frauen«. Es war unmöglich! Ein Unfall war passiert, dessen ungeheures Krachen mehr als hundert Meter weit zu hören gewesen war — weit über die Länge eines Fußballfeldes hinaus —, und ein Mann war am Unfallort erschossen worden, sein lebloser Körper verblutete im Staub, aber niemand, niemand war erschienen. Mit Ausnahme von Carlos und fünf unbekannten Leuten schien das ganze Arsenal ein Raum wie ein Vakuum. Das machte alles keinen Sinn!
Und dann hörte er tief aus dem Innern des Gebäudes, gedämpft, aber deutlich, Klänge von Musik. Militärische Musik, hauptsächlich Trommeln und Trompeten schwollen zu Crescendos an, von denen sich Borowski nur vorstellen konnte, daß sie innerhalb der hallenden Wände des riesigen Baus ohrenbetäubend sein mußten. Das Bild der jungen Frau, die aus dem Vordereingang gekommen war, kehrte zurück. Sie hatte im Scherz ihre Hände an die Ohren gelegt und eine Grimasse geschnitten, und Jason hatte nicht verstanden. Jetzt tat er es. Sie war aus dem inneren Bereitstellungsraum des Arsenals gekommen, in dem der Lautstärkepegel der Musik überwältigend sein mußte. Im Kubinka gab es eine Feierlichkeit, eine passabel besuchte Veranstaltung, was den Überfluß an Autos auf dem ausgedehnten Parkplatz erklärte. Insgesamt standen vielleicht zwanzig Wagen — für die Sowjetunion tatsächlich ein Überfluß — im Halbkreis auf dem Platz geparkt, darunter kleine Transporter und Busse. Die Aktivitäten drinnen waren dem Schakal sowohl Ablenkungsmanöver als auch Schutz. Er wußte, wie man beides zu seinem Vorteil einsetzte. Das wußte auch sein Feind. Schachmatt!
Warum kam Carlos nicht heraus? Warum war er nicht herausgekommen? Worauf wartete er? Die Umstände waren optimal. Sie konnten nicht besser sein. Hatten ihn seine Wunden so langsam werden lassen, daß er den Vorteil verlor, den er sich geschaffen hatte? Das war möglich, aber nicht wahrscheinlich. Nachdem er schon so weit gekommen war, würde er neue, ungeheure Energien mobilisieren. Er hatte es in sich, weiter zu gehen, viel weiter. Warum also war er noch drinnen? Die nicht umkehrbare Logik, die Überlebenslogik des Killers, verlangte, daß der Schakal sich so schnell wie möglich aus dem Staub machte. Es war seine einzige Chance! Warum war er dann noch drinnen? Warum war sein Fluchtwagen nicht vom Gelände verschwunden und raste mit ihm in die Freiheit?
Wieder hatte Jason den Rücken gegen die Mauer gelehnt, machte einen Schritt nach links und beobachtete alles, was er sehen konnte, genau. Wie die meisten Arsenale überall auf der Welt hatte auch Kubinka keine Fenster im Erdgeschoß, zumindest nicht auf den ersten fünf Metern vom Boden. Er nahm an, daß es daran lag, daß gelegentlich wild galoppierende Pferde und Glas nicht zusammenpaßten. Dort, wo er den ersten Stock vermutete, war ein Fensterrahmen zu sehen, nah genug am ermordeten Fahrer, um für eine schallgedämpfte Hochleistungswaffe die größtmögliche Genauigkeit zu sichern. Ein anderer Rahmen auf Bodenhöhe besaß einen herausragenden Griff. Es war der Hintereingang, den niemand erwähnt hatte.
Die kleinen Dinge, die unwichtigen Dinge! Gottverdammt!
Die Musik im Inneren schwoll wieder an, aber jetzt war das Anschwellen anders, die Trommeln lauter, die Trompeten getragener, durchdringender. Es war das unverkennbare Ende eines symphonischen Marsches, leidenschaftlichste Militärmusik… Das war es! Das Ende der Veranstaltung im Inneren stand bevor, und der Schakal würde die herauskommende Menge als Schutz für seine Flucht benutzen.
Er würde sich unter sie mischen, und wenn sich auf dem Parkplatz beim Anblick des toten Mannes und der zerschossenen Limousine Panik ausbreitete, würde er verschwinden — mit wem und mit welchem Fahrzeug, es würde Stunden dauern, bis man es würde feststellen können.
Borowski mußte hinein. Er mußte ihn aufhalten, ihn fassen! Krupkin hatte sich Sorgen um das Leben» mehrerer Dutzend Männer und Frauen «gemacht — und er hatte keine Ahnung, daß es in Wahrheit womöglich mehrere Hundert waren! Carlos würde alles tun, um eine Massenhysterie hervorzurufen, in der er entkommen konnte. Leben bedeuteten ihm nichts. Falls weitere Morde nötig wurden, um sein eigenes zu retten. Delta one ließ alle Vorsicht außer acht, rannte zur Tür, hielt seine AK-47 seitlich unterm Arm, die Sicherung gelöst, den Zeigefinger am Abzug. Er packte den Türgriff und drehte ihn — er wollte sich nicht bewegen lassen. Er feuerte mit seiner Waffe in die Metallplatte um das Schloß herum, dann eine zweite Salve in den sie umgebenden Rahmen, und als er nach dem qualmenden Griff langte, schien die Welt durchdrehen zu wollen!
Aus der Reihe der geparkten Fahrzeuge schoß plötzlich ein schwerer Lastwagen hervor, kam direkt auf ihn zu und beschleunigte wie wild. Gleichzeitig brachen immer wieder Feuerstöße aus einer automatischen Waffe hervor, deren Kugeln rechts neben ihm ins Holz schlugen. Er machte einen Satz nach links, rollte über den Boden, Staub und Schmutz in seinen Augen, als er immer weiterrollte, sein Körper eine Röhre, die davonwirbelte.
Und dann geschah es! Eine ungeheure Explosion zerfetzte die Tür und riß gleichzeitig ein großes Stück aus der Wand darüber heraus, und durch den schwarzen Rauch und die herabfallenden Trümmer konnte Jason eine Gestalt erkennen, die unbeholfen zu den Autos hinübertaumelte. Der Killer entkam am Ende doch noch. Aber Delta one lebte! Und der Grund dafür war offensichtlich: Der Schakal hatte einen Fehler gemacht. Nicht in der Art Falle, die er ihm gestellt hatte, sie war außergewöhnlich. Carlos wußte, daß sein Feind mit Krupkin und dem KGB zusammenarbeitete, und daher war er nach draußen gegangen und hatte auf ihn gewartet. Sein Fehler hatte in der Plazierung des Sprengstoffs bestanden. Er hatte die Bombe oder die Bomben — oben auf dem Motor des Lastwagens verdrahtet, nicht darunter. Sprengstoffe suchen sich den Weg des geringsten Widerstands. Die relativ dünne Haube eines Fahrzeugs ist weit weniger solide als das Eisen darunter. Die Bombe war Hochgegangen, im wahrsten Sinne des Wortes, und hatte so keine todbringenden Metallteile in Bodenhöhe hinter Jason herschicken können.