Wie wohltuend für die Seele, unter einer hohen stillen Sonne diese strohbeladenen Fuhrwerke, diese unverpackten Kisten, diese uneiligen Passanten einer dörflich gewordenen Stadt verstummen zu sehen! Ich selbst, der ich sie vom Fenster des verwaisten Büros aus betrachte, befinde mich an einem anderen Ort: einem stillen Marktflecken in der Provinz, lebe dahin in einem kleinen, unbekannten Dorf und bin glücklich, weil ich ein anderer bin.
Ich weiß: Wenn ich aufsehe, sind da die schmutzigen Häuserzeilen, die ungeputzten Fenster aller Büros der Unterstadt, die widersinnigen Fenster der oberen Etagen, wo noch immer Leute wohnen, und ganz oben, zwischen den Giebelfenstern, zwischen Blumentöpfen und Pflanzen, in der Sonne, die ewig flatternde Wäsche. Ja, ich weiß, aber das Licht, das all dies vergoldet, ist so sanft, so ohne Sinn die stille Luft, die mich umgibt, daß ich nicht einmal einen »sichtbaren« Grund habe, auf mein Potemkinsches Dorf zu verzichten, meinen kleinen Marktflecken, wo der Handel ein Ausruhen ist.
Ich weiß, ich weiß … Es ist in der Tat die Stunde des Mittagessens, der Entspannung oder des Nichtstuns. Alles geht gut an der Oberfläche des Lebens. Ich selbst schlafe, auch wenn ich mich über das Balkongeländer lehne wie über die Reling eines Schiffes, das mir eine neue Landschaft erschließt. Selbst ich lasse meine Gedanken ruhen, als lebte ich in der Provinz. Aber mit einem Mal taucht etwas anderes auf, hüllt mich ein und befiehlt mir: Und schon sehe ich hinter dem Mittag des Marktfleckens alles Leben in dieser kleinen Stadt; ich sehe das große stumpfsinnige Glück des Familienlebens das große stumpfsinnige Glück des Lebens auf dem Lande, das große stumpfsinnige Glück der Ruhe inmitten von Schmutz. Ich sehe, weil ich sehe. Aber ich habe nicht gesehen und wache auf. Ich schaue umher, lächle und klopfe als erstes den Staub von den Ellbogen meines leider dunklen Anzugs, der sich auf dem nie gesäuberten Balkongeländer angesammelt hat, und weiß noch nicht, daß dieses Geländer eines Tages, wenn auch nur für Augenblicke, die staubfreie Reling eines Schiffes auf einer endlosen Kreuzfahrt werden soll.
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Gegen das im nächtlichen Grün verblaßte Blau hob sich am Sommerhorizont braunschwarz und umflort von gelblichem Grau die kalte Unregelmäßigkeit der Bauten ab.
Einst beherrschten wir den physischen Ozean und schufen die universelle Zivilisation; heute beherrschen wir den psychischen Ozean, die Emotion, das mütterliche Temperament, und erschaffen die geistige Zivilisation.
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… die schmerzhafte Intensität meiner Empfindungen, selbst glücklicher; die glückliche Intensität meiner Empfindungen, selbst trauriger.
Ich schreibe, es ist Sonntag, später Vormittag, der Tag ist weit, das Licht weich, über den Dächern der stillstehenden Stadt schließt das Blau eines stets neuen Himmels die geheimnisvolle Existenz der Gestirne ein in Vergessen …
Auch in mir ist Sonntag …
Auch mein Herz geht in eine Kirche, von der es nicht weiß, wo sie ist; es trägt einen Kindersamtanzug, das Gesicht zart gerötet unter den ersten Eindrücken, lächelnd, und die Augen über seinem zu großen Kragen sind nicht traurig.
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Der Himmel dieses nicht endenden Sommers erwachte Tag für Tag in einem matten Grünblau, das ein stilles Weiß bald aschfarben färbte. Im Westen jedoch war er von jener Farbe, wie man sie ihm im allgemeinen zuschreibt.
Die Wahrheit sagen, suchen und finden, alle Illusion verneinen – wie viele machen davon Gebrauch, wenn sie den Boden unter ihren Füßen verlieren, und wie beschmutzen all die illustren Namen mit ihren Großbuchstaben – gleich denen auf Landkarten – den Scharfsinn der nüchternen Seiten, die wir gelesen haben!
Das Kosmorama von Dingen, wenn morgen geschieht, was nie hätte geschehen können. Lapislazuli zusammenhangloser Emotionen! Weißt du noch, wie viele Erinnerungen eine falsche Annahme, eine schlichte Vorstellung bergen? In einem Delirium vager Gewißheit erhebt sich leicht, kurz und weich die Stimme des Wassers aller Gärten, eine Emotion aus den Tiefen des Bewußtseins meiner selbst. Die alten Bänke sind leer, und die Alleen, die sie säumen, verbreiten die Melancholie leerer Straßen.
Nacht in Heliopolis! Nacht in Heliopolis! Nacht in Heliopolis! Wer wird mir die nutzlosen Worte sagen? Wer wird mich entschädigen mit Blut und Unentschiedenheit?
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8. 9. 1933
Hoch blüht in nächtlicher Einsamkeit ein anonymes Licht hinter einem Fenster. Die übrige Stadt liegt im Dunkel, nur ein schwacher Widerschein steigt verschwommen von den Straßen auf und läßt hier und da ein umgekehrtes, geisterblasses Mondlicht schweben. Im Schwarz der Nacht heben sich die Häuser, ihre vielen Farben oder Farbtöne kaum voneinander ab; nur undeutliche, scheinbar abstrakte Unterschiede durchbrechen die Regelmäßigkeit dieses dichten Beieinanders.
Ein unsichtbares Band verknüpft mich mit dem namenlosen Besitzer des Lichts. Es ist nicht der gemeinsame Umstand, daß wir beide wach sind: es kann nicht auf Gegenseitigkeit beruhen, denn mein Fenster ist dunkel, und er könnte mich niemals sehen. Es ist etwas anderes, etwas, das nur mich betrifft und ein wenig mit meinem Gefühl der Einsamkeit zu tun hat, das mit der Nacht und der Stille einhergeht und sich dieses Licht als Halt wählt, weil es der einzig vorhandene ist. Weil es leuchtet, erscheint die Nacht so dunkel. Weil ich wach bin und im Dunkel träume, erscheint das Licht so hell.
Alles, was existiert, existiert möglicherweise, weil etwas anderes existiert. Nichts ist, alles koexistiert: So und nicht anders ist es vielleicht. Ich spüre, daß ich jetzt nicht existierte – zumindest nicht so, wie ich existiere, mit meinem gegenwärtigen Bewußtsein von mir, das, weil es Bewußtsein und Gegenwart ist, in diesem Augenblick ganz und gar ich ist – wenn dieses Licht nicht leuchtete, dort, irgendwo, ein Leuchtturm, der keinen Weg weist, und mit dem scheinbaren Vorteil der Höhe. Ich fühle das, weil ich nichts fühle. Ich denke das, weil es nichts ist. Nichts, gar nichts, Teil der Nacht und der Stille und der Tatsache, daß ich wie sie nichtig, negativ und zwischenräumlich bin, Raum zwischen mir und mir, etwas, das ein Gott vergessen hat …
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Während einer dieser Zustände schlafloser Schläfrigkeit, in denen wir uns ohne Intelligenz intelligent vergnügen, überfliege ich nochmals einige jener Seiten, die als Summe mein Buch unzusammenhängender Eindrücke ergeben werden. Wie ein vertrauter Geruch geht für mich von ihnen etwas Ödes, Monotones aus. Auch wenn ich immer sage, ich sei ein anderer, fühle ich doch, daß ich immer das gleiche sage; daß ich mir ähnlicher bin, als ich mir eingestehen möchte, und daß ich bei Abschluß der Rechnung weder die Freude eines Gewinnes noch den Schock eines Verlustes erlebe. Ich bin die Abwesenheit des Saldos meiner selbst, das Fehlen eines natürlichen Gleichgewichts, und dies schwächt und betrübt mich.
Alles, was ich geschrieben habe, ist grau. Man könnte meinen, mein Leben, selbst mein geistiges, sei ein Regentag, an dem alles Ereignislosigkeit und Halbdunkel ist, leeres Privileg und vergessener Grund. Ich gräme mich in zerrissener Seide. Erkenne mich nicht, weder im Licht noch in der Langeweile.
Mein ärmliches Bemühen, zumindest zu sagen, wer ich bin, und wie eine Nervenmaschine kleinste Eindrücke meines subjektiven, hellbewußten Lebens zu registrieren, dies alles entleerte sich wie ein umgestoßener Eimer und ergoß sich über den Boden wie aller Dinge Wasser. Ich erschuf mich aus falschen Farben, und dies führte unweigerlich in ein Dachstubenreich. Mein Herz, aus dem ich die großen Ereignisse der erlebten Prosa spann, erscheint mir heute, auf diesen vor langem geschriebenen und nun mit anderer Seele wiedergelesenen Seiten, wie eine Wasserpumpe in einem ländlichen Garten, instinktiv installiert und zwangsläufig betätigt. Ich habe auch ohne Stürme Schiffbruch erlitten, auf einem Meer, in dem ich stehen konnte.