Eine große erholende, befreiende Freude verwirrte uns alle. Wir arbeiteten wie benommen, waren entgegenkommend und mit überströmender Natürlichkeit gesellig. Ohne daß ihm jemand dies aufgetragen hätte, öffnete der Dienstmann weit die Fenster. Ein frischer, undefinierbarer Geruch wehte mit der feuchten Luft in den großen Raum. Es regnete nur mehr leicht und bescheiden. Die Geräusche der Straße waren unverändert und doch verschieden. Man vernahm die Stimmen der Fuhrleute, und es waren wirklich Menschen. Klar und deutlich suchten auch die Straßenbahnklingeln in der Seitenstraße Verständigung mit uns. Das laute Lachen eines einsamen Kindes klang in der gereinigten Atmosphäre wie das Zwitschern eines Kanarienvogels. Der Regen ließ weiter nach.
Es war sechs Uhr. Das Büro wurde geschlossen. Chef Vasques rief durch den halb geöffneten Windschirm: »Sie können gehen«, es klang wie ein kommerzieller Segen. Ich stand sogleich auf, schloß das Hauptbuch und verwahrte es. Ich legte den Federhalter sichtbar auf die Vertiefung des Tintenfasses, sagte, auf Moreira zutretend, hoffnungsvoll »Bis morgen« und drückte ihm die Hand wie nach einem großen Gunstbeweis.
451
Reisen? Existieren ist reisen genug. Ich fahre von Tag zu Tag wie von Bahnhof zu Bahnhof im Zug meines Körpers oder meines Schicksals und blicke auf Straßen und Plätze, auf Gesichter und Gesten, immer gleich und immer verschieden, wie auch Landschaften es sind.
Was ich mir vorstelle, sehe ich. Was anders tue ich, wenn ich reise? Nur eine äußerst schwache Vorstellungskraft rechtfertigt einen Ortswechsel, um empfinden zu können.
»Jede Straße, sogar die Straße von Entepfuhl, führt dich ans Ende der Welt.«[71] Doch das Ende der Welt ist, sobald man die Welt umrundet hat, das Entepfuhl, von dem aus man aufgebrochen ist. In der Tat entspricht das Ende der Welt, wie auch ihr Anfang, unserer Vorstellung von der Welt. In uns sind die Landschaften Landschaft. Daher erschaffe ich sie, wenn ich sie mir vorstelle; wenn ich sie erschaffe, sind sie; wenn sie sind, sehe ich sie, wie ich alle anderen sehe. Wozu also reisen? Wo anders wäre ich in Madrid, Berlin, Persien, China oder an beiden Polen als in mir selbst, in dem, was und wie ich empfinde?
Das Leben ist, was wir aus ihm machen. Die Reisen sind die Reisenden. Was wir sehen, ist nicht, was wir sehen, sondern was wir sind.
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Der einzige wahre Reisende, den ich je kannte, war ein Laufbursche in einem Büro, in dem ich vor Zeiten selbst Angestellter war. Dieser Junge sammelte Werbebroschüren von Städten, Ländern und Transportunternehmen, besaß eine Reihe Landkarten, herausgerissen aus Zeitschriften oder da und dort erbeten, Illustrationen von Landschaften, Stiche exotischer Trachten, Bilder von Dampfern und Schiffen, ausgeschnitten aus Zeitungen und Magazinen. Er besuchte Reiseagenturen im Auftrag eines imaginären oder vielleicht auch wirklichen Unternehmens und erbat Reiseprospekte über Italien und Indien und Prospekte mit Schiffsverbindungen zwischen Portugal und Australien.
Er war nicht nur der größte, weil authentischste Reisende, den ich je kannte, sondern auch einer der glücklichsten Menschen, denen mir je vergönnt war zu begegnen. Ich bedaure, daß ich nicht weiß, was aus ihm geworden ist, oder sagen wir, ich nehme an, ich sollte es bedauern, denn genaugenommen bedaure ich es nicht: Seit der kurzen Zeit, in der ich ihn kannte, sind zehn oder mehr Jahre vergangen, gewiß ist er inzwischen ein erwachsener Mann, abgestumpft und pflichtbewußt, verheiratet vielleicht, eine soziale Stütze für jemanden – ein Toter, der mitten im Leben steht. Vielleicht ist er sogar mit dem Körper gereist, er, der so wunderbar mit der Seele reisen konnte.
Da fällt mir ein: er kannte sich genauestens aus mit den Bahnverbindungen zwischen Paris und Bukarest, wußte, mit welchen Zügen man durch England fuhr, und seine fehlerhafte Aussprache fremder Namen verriet die strahlende Gewißheit seiner großen Seele. Heute lebt er wahrscheinlich als toter Mann, vielleicht aber erinnert er sich auf seine alten Tage, daß es nicht nur besser, sondern auch wahrer ist, von Bordeaux zu träumen als in Bordeaux auszusteigen.
Wer weiß, vielleicht war auch alles ganz anders: Vielleicht hat er nur jemanden nachgeahmt. Oder … ja, angesichts des erschreckenden Unterschieds zwischen der Intelligenz von Kindern und der Dummheit von Erwachsenen denke ich bisweilen, daß uns in der Kindheit ein Schutzgeist begleitet, der uns seine eigene Astral-Intelligenz borgt und uns später, vielleicht mit Bedauern, doch einem höheren Gesetz gehorchend – wie eine Tiermutter ihre herangewachsenen Jungen –, verläßt und unserem Schicksal anheimgibt: dem eines Mastschweins.
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Von der Terrasse dieses Kaffeehauses schaue ich verschwommen auf das Leben. Ich sehe nur wenig von seiner Vielfalt, dichtgedrängt hier auf diesem Platz, deutlich sichtbar und mein. Eine leichte Benommenheit, wie bei einem Glas zuviel, enthüllt mir die Seele von Dingen. Außerhalb von mir geht in den Schritten der Vorübergehenden und der gezügelten Heftigkeit ihrer Bewegungen sichtbar und einmütig das Leben dahin. In diesem Augenblick, in dem meine Sinne gelähmt sind und mir alles etwas anderes zu sein scheint und meine Wahrnehmungen falsch, verworren und klar, breite ich reglos meine Schwingen aus wie ein imaginärer Kondor.
Und da ich ein Mann von Idealen bin, strebe ich vielleicht wirklich nicht mehr an, als hier zu sitzen, auf diesem Platz, an diesem Tisch, in diesem Kaffeehaus.
Alles ist so vergeblich wie ein Herumstochern in Asche und so vage wie der Augenblick, bevor der Morgen graut.
Und das Licht fällt so vollkommen und heiter auf die Dinge, vergoldet sie so prächtig mit traurig lächelnder Wirklichkeit! Das ganze Mysterium der Welt kommt herab zu mir, bis es vor meinen Augen Banalität und Straße wird.
Wie sich doch Alltag und Geheimnis berühren in unserer unmittelbaren Nähe! Hier, an der lichten Oberfläche dieses vielschichtigen menschlichen Lebens, lächelt die Zeit ungewiß auf den Lippen des Mysteriums! Wie modern dies alles klingt! Und im Grunde so alt, so geheimnisvoll, mit einem so anderen Sinn behaftet als dem, der in all dem leuchtet!
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Die Zeitungslektüre ist immer eine unerquickliche Lektüre, nicht nur in ästhetischer, sondern oftmals auch in moralischer Hinsicht, selbst für jemanden, der sich nicht sonderlich um Moralität sorgt.
Liest man, wie sich Kriege und Revolutionen auswirken – und immer ist das eine oder das andere im Gange –, befällt einen weniger Entsetzen als vielmehr Verdruß. Nicht nur das grausame Schicksal all der Toten und Verwundeten, nicht das Opfer all derer, die kämpfend oder kampflos sterben und gestorben sind, lastet hart auf der Seele, sondern mehr noch die Dummheit, die Leben und Besitz etwas unvermeidbar Nutzlosem opfern. Alle Ideale und alles Machtstreben sind nichts als weibische Männerphantasien. Kein Imperium ist es wert, daß um seinetwillen die Puppe eines Kindes entzweigeht. Kein Ideal verdient, daß man ihm eine Spielzeugeisenbahn opfert. Welches Imperium ist schon von Nutzen, welches Ideal von Vorteil? All das ist menschlich, und die menschliche Natur ist, wie sie ist – wechselhaft, aber unverbesserlich, schwankend, aber rückschrittlich. Angesichts des unerbittlichen Laufes der Dinge, des Lebens, das uns gegeben wurde, ohne daß wir wußten wie, und das uns genommen werden wird, ohne daß wir wissen wann, angesichts des unendlichen Verwirrspiels, das unser Leben mit anderen und gegen andere ist, des Verdrusses, unnütz, immer wieder vor Augen zu haben, was nie zu verwirklichen ist […] – angesichts all dessen, was bleibt dem Weisen da anderes, als Ruhe für sich zu erbitten, nicht ans Leben denken zu müssen, denn leben müssen ist schon genug, einen kleinen Platz an der Sonne zu haben und an der frischen Luft und die Illusion, zumindest diese, daß jenseits der Berge Friede herrscht.