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All diese unseligen Momente in unserem Leben, in denen wir lächerlich waren, unbeholfen oder schwer von Begriff, sollten wir im Licht innerer Heiterkeit betrachten, als eine Art Reisekrankheit. Wir sind Reisende in dieser Welt, freiwillige und unfreiwillige, zwischen nichts und nichts oder allem und allem, und sollten in unserer Eigenschaft als Passagiere nicht allzusehr achten auf die Unannehmlichkeiten des Unterfangens und die Unebenheiten der Wegstrecke. Mit diesem Gedanken tröste ich mich, vielleicht, weil er tröstlich ist, oder aber, weil ich mich mit ihm tröste. Doch auch eingebildeter Trost tröstet, denke ich nicht zuviel über ihn nach.

Zudem ist so vieles tröstlich! Der hohe blaue Himmel, heiter und rein, den immer die ein oder andere Wolke fleckt. Der leichte Wind der in der Natur die starren Äste bewegt und in der Stadt die Wäsche vor den vierten oder fünften Stockwerken flattern läßt. Die Wärme wenn es warm ist, und die Frische, wenn es frisch ist, und immer irgendwo eine Erinnerung mit ihrer Sehnsucht, ihrer Hoffnung und einem magischen Lächeln am Fenster der Welt, und das, was an die Tür unseres Seins klopfen möge wie Bettler, die Christus sind.

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Wie lange schon schreibe ich nicht mehr! Ich habe in den letzten Tagen Jahrhunderte unbestimmten Verzichts durchlebt. Ich stand still wie ein verlassener See inmitten nicht existenter Landschaften.

Unterdessen aber habe ich die vielfältige Monotonie der Tage genossen, die nie gleiche Abfolge der immer gleichen Stunden – das Leben. Ja, ich habe es genossen. Und hätte ich geschlafen, es wäre nicht anders gewesen. Ich stand still wie ein nicht existenter See inmitten verlassener Landschaften.

Wie alle, die sich kennen, kenne ich mich oftmals nicht … Ich sehe mich deutlich hinter all den Masken, durch die ich lebe. Von jeder Veränderung bleibt mir das Unveränderliche und von jedem Tun alles, mit anderen Worten: nichts.

Ich entsinne mich entfernt in meinem Inneren, als hätte ich es je bereist, der Monotonie jenes Hauses auf dem Land, die so anders war als diese hier … Ich habe dort meine Kindheit verbracht, aber könnte, selbst wenn ich es wollte, nicht sagen, ob sie glücklicher oder unglücklicher war als mein Leben heute. Mein Ich, das damals dort lebte, war anders: zwei andere, unterschiedliche, nicht zu vergleichende Leben. Die gleiche, sie äußerlich verbindende Monotonie nahm sich im Inneren zweifellos anders aus. Es waren nicht zwei Monotonien, nein, sondern zweierlei Leben.

Wozu diese Erinnerungen?

Ich bin müde. Und erinnern heißt ausruhen, denn wer sich erinnert, handelt nicht. Wie oft entsinne ich mich, um besser entspannen zu können, dessen, was nie war, und in meinen Erinnerungen an die Orte, an denen ich lebte, ist nichts von der Klarheit und Sehnsucht der Erinnerungen, die, knarrend Diele um Diele, die weiten Räume von einst bewohnen, in denen ich niemals wohnte.

Ich bin so sehr Fiktion meiner selbst geworden, daß jedes natürliche Gefühl, kaum kommt es in mir auf, sogleich zu einem imaginären Gefühl wird – Erinnerungen werden zu Träumen, Träume zum Vergessen der Träume und jedes Selbst-Erkennen ein Nicht-anmich-Denken.

Ich habe mein eigenes Wesen so sehr abgelegt, daß existieren für mich Kleidung anlegen heißt. Ich bin nur verkleidet ich selbst. Und um mich her vergolden alle ungekannten Sonnen im Untergang Landschaften, die ich nie sehen werde.

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Modern sind: (1) Spiegel; (2) Kleiderschränke.

Wir haben uns zu bekleideten Geschöpfen entwickelt, an Körper und Seele.

Und da die Seele immer dem Körper entspricht, hat sich die geistige Bekleidung durchgesetzt. Seither sind wesentliche Bereiche unserer Seele bekleidet, und wir selbst – Menschen, Körper – zählen zur Gattung der bekleideten Tiere.

Nicht nur, weil unsere Kleidung ein wesentlicher Bestandteil von uns geworden ist, sondern auch, weil ihre komplizierte und seltsame Beschaffenheit kaum abgestimmt ist auf die natürliche Eleganz unseres Körpers und seiner Bewegungen.

Bäte man mich, die gesellschaftlichen Gründe für meinen Seelenzustand zu erläutern, würde ich nur stumm auf einen Spiegel deuten, einen Kleiderständer und einen Füllfederhalter.

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Im leichten Nebel des Vorfrühlingsmorgens erwacht schlaftrunken die Unterstadt, und die Sonne geht auf, als ob sie langsam wäre. Stille Heiterkeit liegt in der leicht kühlen Luft, und das Leben fröstelt in dem sanften Wind, der nicht weht, vor einer Kälte, die bereits vorüber ist, es fröstelt eher in der Erinnerung an Kälte als vor Kälte, weniger wegen des derzeitigen Wetters als vielmehr wegen des erst nahenden Sommers.

Bis auf die Milchgeschäfte und Kaffeehäuser ist noch alles geschlossen, aber die Ruhe ist keine sonntägliche Erstarrung, sondern schlicht Ruhe. Ein blonder Streif kündigt sich in der aufklarenden Luft an, und das Blau errötet leicht durch den sich auflösenden Nebel hindurch. In den Straßen die ersten Anzeichen von Bewegung, jeder einzelne Fußgänger hebt sich deutlich ab, und oben, an den wenigen offenen Fenstern, erscheinen ebenfalls morgendliche Gestalten. Die Elektrischen ziehen in der Nebelluft ihre bewegliche, gelbe Zahlenspur. Und von Minute zu Minute beleben sich spürbar die Straßen.

Ich lasse mich treiben, bin ganz sinnliche Aufmerksamkeit, ohne Gedanken und ohne Gefühl. Ich bin früh aufgewacht und ohne Vorurteile hinaus ins Freie. Ich betrachte alles prüfend wie ein Grübler. Sehe wie einer, der nachdenkt. Und ein leichter Gefühlsnebel steigt absurd in mir auf; der äußere Nebel scheint langsam in mich einzudringen.

Unwillkürlich fühle ich, daß ich soeben über mein Leben nachgedacht habe. Ich habe es selbst nicht bemerkt, aber so war es. Ich glaubte, ich sähe und hörte nur, wäre während meines ganzen müßigen Umherschlenderns nur ein Reflektor vorgegebener Bilder gewesen, eine weiße spanische Wand, auf welche die Wirklichkeit Farben und Licht anstelle von Schatten projiziert. Aber ich war mehr, ohne es zu wissen. Ich war die sich selbst verneinende Seele, und auch mein abstraktes Beobachten war Verneinung.

Die Luft trübt sich, weil der Nebel fehlt, sie trübt sich mit blassem Licht, mit dem sich der Nebel gleichsam vermischt hat. Mit einem Mal fällt mir auf, daß der Lärm viel größer und die Menschen viel zahlreicher geworden sind. Je mehr Passanten, desto weniger eilig die Schritte. Und schon löst sich aus der sich verringernden Hast der anderen der Laufschritt der Fischweiber, die riesigen schwankenden Körbe der Bäckerjungen, die unterschiedliche Ähnlichkeit der Händlerinnen alles anderen, aufgehoben nur durch den Inhalt ihrer Körbe, in denen die Farben vielfältiger sind als das Feilgebotene. Die Milchmänner klappern mit den ungleichen Blechkannen ihres ambulanten Berufes wie mit hohlen absurden Schlüsseln. Die Polizisten erstarren an den Kreuzungen, ein uniformiertes Dementi der Zivilisation in der unsichtbaren Bewegung des anbrechenden Tages.

Wie gerne wäre ich doch in diesem Augenblick jemand, der dies alles nur mit seinen Augen sehen, dies alles nur betrachten könnte wie ein erwachsener Reisender, der heute an die Oberfläche des Lebens gelangt ist! Von Geburt an nicht gelernt zu haben, diesen Dingen allen überkommenen Sinn zu verleihen, sondern sie mit dem Ausdruck zu erleben, den sie abgetrennt von dem ihnen auferlegten Ausdruck besitzen. Im Fischweib die menschliche Wirklichkeit erkennen, unabhängig davon, daß man sie Fischweib nennt und weiß, es gibt sie, und sie ist Händlerin. Den Polizisten sehen, wie Gott ihn sieht. Alles zum ersten Mal wahrnehmen, nicht apokalyptisch als Offenbarung des Mysteriums, sondern unmittelbar als Blüte der Wirklichkeit.