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Jetzt erklingen – es sind wohl acht, aber ich zähle sie nicht – die Schläge einer Glocke oder einer großen Uhr. Ich erwache aus mir selbst durch das banale Vorhandensein von Stunden, Begrenzungen, die das Leben in der Gesellschaft der fortdauernden Zeit auferlegt, Grenze im Abstrakten, Trennstrich im Unbekannten. Ich erwache aus mir selbst, und während ich alles betrachte, nun schon voller Leben und der gewohnten Menschheit, bemerke ich, daß der Nebel, der den Himmel freigegeben hat, mit Ausnahme des fast Blauen, das noch im Blau schwebt, meine Seele wahrhaft durchdrungen hat und zugleich den Kern aller Dinge dort, wo sie meine Seele berühren. Ich habe die Vorstellung dessen, was ich sah, verloren. Ich sehe, aber bin blind. Ich fühle mit der Banalität des bereits Bekannten. Dies jetzt ist nicht mehr die Wirklichkeit: Es ist das Leben.

… Jawohl, das Leben, dem auch ich angehöre und das auch mir gehört; nicht mehr die Wirklichkeit, die nur Gott gehört oder sich selbst, die weder Geheimnis noch Wahrheit birgt, die, weil sie wirklich ist oder zu sein vorgibt, irgendwo unveränderlich existiert, frei von Zeitlichkeit oder Ewigkeit, absolutes Bild, Idee einer rein äußerlichen Seele.

Langsam, schneller als ich glaube, lenke ich meine Schritte zu der Haustür, durch die ich wieder nach oben, in mein Zimmer gehen werde. Doch ich bleibe davor stehen, zögere, gehe weiter. Die Praça da Figueira, die bunte Waren ausgähnt, füllt sich mit Käufern und meinen Horizont mit fliegenden Händlern. Ich gehe langsam, wie erstorben, weiter, und meine Art zu sehen ist nicht mehr die meine, sie ist nichts mehr: Nur mehr die Sehweise eines menschlichen Tieres, das, ohne es zu wollen, die griechische Kultur, die römische Ordnung, die christliche Moral und alle übrigen Illusionen geerbt hat, welche die Zivilisation ausmachen, innerhalb derer ich fühle.

Wo mögen die Lebenden sein?

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Ich wäre gerne auf dem Land, um gerne in der Stadt sein zu können. Doch bin ich auch so gerne in der Stadt, dann aber wäre ich es doppelt so gern.

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Je höher die Sensibilität und je subtiler die Fähigkeit zu fühlen, desto absurder vibriert und erschaudert sie bei den kleinen Dingen. Es bedarf einer ungewöhnlichen Intelligenz, um vor einem dunklen Tag Angst zu empfinden. Die Menschheit, die recht unsensibel ist, verspürt keine Angst vor dem Wetter, denn Wetter ist immer; sie nimmt den Regen nur wahr, wenn er ihr aufs Haupt regnet.

Der trübe, träge Tag wird feuchtheiß. Allein im Büro, lasse ich mein Leben Revue passieren, und was ich sehe, ist wie der Tag, der mich bedrückt und bedrängt. Ich sehe mich als Kind, mit allem zufrieden, als jungen Mann, der nach den Sternen greift, als reifen Mann ohne Freude und ohne Streben. Und all das geschah träge und trüb wie der Tag, der mich dies sehen oder erinnern läßt.

Wer von uns, der zurückblickt auf dem Weg ohne Umkehr, kann sagen, er habe den rechten Weg eingeschlagen?

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Da ich weiß, wie leicht selbst kleinste Dinge mich zu quälen vermögen, vermeide ich bewußt jegliche Berührung mit ihnen. Wer wie ich darunter leidet, wenn eine Wolke vorübergehend die Sonne verdeckt, wie sollte er da nicht unter dem Dunkel des allzeit verhangenen Tages leiden, der sein Leben ist?

Meine Isolation ist keine Suche nach Glück, das zu erreichen meine seelische Kraft nicht vermag; auch keine Suche nach Ruhe, die niemand findet, es sei denn, er hat sie nie verloren, sondern eine Suche nach Schlaf, nach Verlöschen, nach bescheidenem Verzicht.

Die vier Wände meines ärmlichen Zimmers sind für mich zugleich Zelle und Distanz, Bett und Sarg. Meine glücklichsten Stunden sind jene, in denen ich an nichts denke, nichts will, nicht einmal träume, in einer Starre verloren bin wie eine mißglückte Pflanze – nur mehr Moos, das an der Oberfläche des Lebens wächst. Ich genieße ohne Bitterkeit das absurde Bewußtsein, nichts zu sein, den Vorgeschmack des Todes und des Erlöschens.

Nie hatte ich jemanden, den ich hätte »Meister« nennen können. Kein Christus ist für mich gestorben. Kein Buddha hat mir einen Weg gezeigt. Kein Apoll und keine Athene sind mir je in meinen höchsten Träumen erschienen, meine Seele zu erleuchten.

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Da ich es mir aber zur Pflicht machte, nie zielgerichtet zu handeln im Leben, und stets bemüht war, mit den Dingen zu brechen, gelangte ich genau dahin, wovor ich zu fliehen gesucht hatte. Ich wollte das Leben nicht fühlen, nicht an den Dingen rühren, da mich meine natürliche Erfahrung im Umgang mit der Welt gelehrt hatte, daß jedes Wahrnehmen des Lebens für mich stets mit Schmerz verbunden war. Indem ich diesen Umgang aber vermied, begab ich mich ins Abseits, isolierte mich, und indem ich dies tat, steigerte ich meine ohnehin überreizte Sensibilität noch weiter. Wenn es möglich wäre, ganz und gar mit den Dingen zu brechen, nähme meine Sensibilität nicht weiter Schaden. Doch diese völlige Isolation ist nicht aufrechtzuerhalten. Denn wie wenig ich auch tue, ich atme, wie wenig ich auch handle, ich bewege mich. Und da sich meine Sensibilität durch die Isolation weiter steigerte, empfand ich schließlich selbst unbedeutendste Vorkommnisse, die zuvor nicht einmal mich berührt hatten, als Katastrophen. Ich wählte den falschen Fluchtweg. Über einen unbequemen Umweg gelangte ich genau an den Punkt, an dem ich mich bereits befunden hatte, und zum Entsetzen, dort leben zu müssen, kam noch die Erschöpfung, die jene Reise mit sich brachte. Ich habe den Selbstmord nie als Lösung in Betracht gezogen, denn ich hasse das Leben aus Liebe zum Leben. Ich brauchte lange, um mich von diesem jämmerlichen Irrtum zu überzeugen, in dem ich mit mir lebe. Doch einmal davon überzeugt, wurde ich ärgerlich, wie immer, wenn ich mich von etwas überzeugen lassen muß, denn jede Überzeugung geht für mich mit dem Verlust einer Illusion einher.

Mit dem Analysieren meines Willens habe ich ihn in mir abgetötet. Könnte ich doch nur zurück in jene Kindheit vor der Analyse, auch wenn sie die Zeit vor dem Willen wäre!

In meinen Gärten herrscht Todesschlaf, die Teiche schlummern in der Mittagssonne, wenn das Summen der Insekten übermächtig wird und das Leben mich nicht niederdrückt wie ein Kummer, sondern ein anhaltender physischer Schmerz.

Ferne Paläste, versonnene Parks anlegen, Alleen, die sich in der Ferne verengen, tote Anmut der Steinbänke, auf denen keiner mehr sitzt – toter Pomp, zerfallene Anmut, verlorener Flitter. Mein schwindendes Sehnen – empfände ich doch wieder jenen Kummer, mit dem ich dich erträumte!

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Endlich finde ich Ruhe. Alle Spuren, aller Unrat fallen ab von meiner Seele, als hätte es sie nie gegeben. Ich bin allein und ruhig. Diese Stunde ist wie die Stunde, in der ich einen Glauben annehmen könnte. Doch zieht mich nichts nach oben, wenngleich mich auch nichts mehr nach unten zieht. Ich fühle mich frei, als hätte ich aufgehört zu existieren und wäre mir dessen bewußt.

Ruhe, ja, ich finde Ruhe. Eine große Ruhe, sanft wie etwas Nutzloses, kehrt ein in mich bis hinab auf den Grund meines Seins. Die Seiten, die ich gelesen, die Pflichten, die ich erfüllt habe, der Lauf und die Zufälle des Lebens – all dies ist für mich nur noch unbestimmt, schattenhaft, ein kaum sichtbarer Halo, der etwas Ruhiges umgibt, von dem ich nicht weiß, was es ist. Das Bemühen, bei dem ich ab und an die Seele vergessen habe, das Denken, bei dem ich ab und an das Handeln vergessen habe – beide kommen sie zurück zu mir als eine Art gefühllose Zärtlichkeit, ein armselig leeres Mitleid.