Es ist nicht der langsame, milde Tag, bewölkt und lind. Es ist nicht diese schwache, fast nichtige Brise, kaum spürbarer als die stehende Luft. Es ist nicht die namenlose Farbe des hier und da blaßblauen Himmels. Nein, es ist nichts von alledem, weil ich nichts von alledem fühle. Ich sehe, ohne sehen zu wollen, machtlos. Aufmerksam wohne ich einem nicht stattfindenden Schauspiel bei. Nicht Seele spüre ich, nur Ruhe. Die äußeren Dinge, klar und stillstehend, selbst die sich bewegenden, erscheinen mir, wie die Welt Christus erschienen sein muß, als Satan ihn aus der Höhe aller Dinge heraus versuchte. Sie sind nichts, und ich verstehe, warum Christus nicht versucht war. Sie sind nichts, und ich verstehe nicht, warum der so gewitzte alte Satan glaubte, er könne ihn damit versuchen.
Gehe leicht dahin, nicht gespürtes Leben, stiller Fluß unter vergessenen Bäumen! Gehe sanft dahin, unbekannte Seele, sanftes, nicht sichtbares Gemurmel hinter großen sich neigenden Zweigen! Gehe nutzlos dahin, grundlos, bewußtes Bewußtsein von nichts, vager Glanz in der Ferne, zwischen Lichtungen im Blattwerk, von dem niemand weiß, woher er kommt und wohin er strahlt! Gehe dahin, gehe dahin und mach mich vergessen!
Vager Hauch dessen, was nicht zu leben wagte, schwacher Seufzer dessen, was nicht fühlen konnte, unnützes Gemurmel dessen, was nicht denken wollte, gehe langsam dahin, gemächlich, in unumgänglichen Strudeln und auferlegten Gefällen, gehe ein in den Schatten oder das Licht, Bruder der Welt, gehe ein in die himmlische Herrlichkeit oder den Abgrund, Sohn des Chaos und der Nacht, aber erinnere dich in deinem Verborgenen, daß die Götter nach dir kamen und auch sie vergehen.
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Wer die vorausgehenden Seiten dieses Buches gelesen hat, wird ohne Zweifel zu der Ansicht gelangt sein, ich sei ein Träumer. Und doch irrt er mit dieser Ansicht. Zum Träumer fehlt mir das Geld.
Große Melancholie, Traurigkeit und Überdruß können nur in einer komfortablen und luxuriösen Atmosphäre existieren. Deshalb gibt sich der Egaeus[72] E. A. Poes, der stundenlang in krankhafte Betrachtungen versinkt, seiner Neigung in einer Ahnenburg hin, wo jenseits der Türen des großen Saals, in dem das Leben am Werk ist, unsichtbare Hofmeister sich um Haus und Mahlzeiten kümmern.
Der große Traum setzt gewisse gesellschaftliche Gegebenheiten voraus. Als ich mich eines Tages, trunken von der rhythmischen, schmerzlichen Bewegung meiner Aufzeichnungen, an Chateaubriand erinnerte, wurde mir rasch bewußt, daß ich weder Vicomte noch Bretone war. Als ich ein andermal, in dem bereits erwähnten Sinne, eine Ähnlichkeit mit Rousseau zu verspüren meinte, führte ich mir ebenso rasch vor Augen, daß, wenn es mir denn nicht vergönnt war, Adeliger und Schloßherr zu sein, ich ebensowenig Schweizer und Vagabund sein konnte.
Doch zum Glück gibt es auch in der Rua dos Douradores eine Welt. Auch hier sorgt Gott dafür, daß das Rätsel des Lebens nicht ausbleibt. Und selbst wenn meine Träume so ärmlich sind wie die Landschaft aus Karren und Kisten, deren Rädern und Brettern ich sie zu entnehmen vermag, so sind sie doch alles, was ich habe und haben kann.
Irgendwo sind die Sonnenuntergänge ohne Zweifel dauerhafte Wirklichkeit. Doch auch in diesem vierten Stock über der Stadt kann man an das Unendliche denken. Ein Unendliches mit Warenlagern im Erdgeschoß, gewiß, aber auch mit Sternen darüber … Das fällt mir ein an diesem Tagesende an meinem Fenster, oben, in der Unzufriedenheit des Bürgers, der ich nicht bin, und in der Traurigkeit des Dichters, der ich nie werde sein können.
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9. 6. 1934
Hält der Sommer Einzug, werde ich traurig. Eigentlich müßte das strahlende, wenn auch grelle Licht der Sommerstunden einem, der nicht weiß, wer er ist, wohltun. Aber nein, mir tut es nicht wohl. Zu stark ist der Kontrast zwischen dem äußeren, überschäumenden Leben und dem, was ich fühle und denke, ohne fühlen oder denken zu können – Leichnam meiner nie begrabenen Empfindungen. Mir ist zumute, als lebte ich in diesem grenzenlosen, Weltall genannten Vaterland unter einer politischen Tyrannei, die, auch wenn sie mich nicht direkt bedrückt, so doch ein verstecktes Prinzip meiner Seele beleidigt. Dann befällt mich langsam und dumpf die Sehnsucht nach einem künftigen, unmöglichen Exil.
Mir ist vor allem nach Schlaf. Nicht nach einem Schlaf, der latent wie jedes Schlafen – selbst krankhaftes – das physische Privileg der Ruhe mit sich bringt. Nicht nach einem Schlaf, der, weil er das Leben vergessen macht und vielleicht Träume schenkt, auf dem Tablett, mit dem er sich unserer Seele nähert, auch die milden Gaben eines großen Verzichts bringt. Nein: Dies ist ein Schlaf, der nicht zu schlafen vermag, der auf den Lidern lastet, ohne sie zu schließen, und mit einem spürbar dummen, angewiderten Ausdruck unsere bitter ungläubigen Mundwinkel verzieht. Dies ist ein Schlaf, wie er bei Ianger Schlaflosigkeit der Seele unnütz auf dem Körper lastet.
Einzig wenn die Nacht kommt, verspüre ich in gewisser Weise, wenn auch nicht Freude, so doch Entspannung, die ich, weil andere Stunden der Entspannung angenehm sind, dank einer Entsprechung der Sinne ebenfalls als angenehm empfinde. Dann verfliegt der Schlaf, und der verwirrende geistige, durch den fehlenden Schlaf verursachte Dämmerzustand läßt nach, klart auf, erhellt sich fast. Für einen Augenblick erwacht die Hoffnung auf anderes. Doch sie ist kurz. Oberhand gewinnt ein hoffnungsloser, müder Überdruß, das böse Erwachen eines Menschen, der keinen Schlaf gefunden hat. Und vom Fenster meines Zimmers aus sehe ich arme, vom Körper müde Seele Sterne; unzählige Sterne, nichts, das Nichts, doch unzählige Sterne ….
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Der Mensch sollte sein eigenes Gesicht nicht sehen können. Nichts ist schlimmer. Die Natur verlieh ihm die Gabe, sein Gesicht so wenig sehen zu können, wie er sich in die eigenen Augen sehen kann.
Nur im Wasser der Flüsse und Seen konnte er sein Gesicht betrachten. Und die Haltung, die er dabei einnehmen mußte, war symbolisch. Er mußte sich bücken, beugen, um die Schande zu begehen, sich zu sehen.
Der Schöpfer des Spiegels hat die menschliche Seele vergiftet.
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Er hörte mich meine Verse lesen – die ich gut las an diesem Tag, denn ich war entspannt – und sagte zu mir, als sei dies ein schlichtes Naturgesetz: »Wenn Sie immer so wären, allerdings mit einem anderen Gesicht, wären Sie überaus faszinierend.« Das Wort »Gesicht« packte mich, mehr noch als das, was es beinhaltete, am Kragen des Unwissens meiner selbst. Ich sah den Spiegel meines Zimmers, sah mein armes Gesicht eines nicht armen Bettlers, als sich der Spiegel mit einem Mal drehte und das gesamte Spektrum der Rua dos Douradores sich wie das Nirwana eines Briefträgers vor mir auftat.
Die Schärfe meiner Wahrnehmungen wird zu einer mir fremden Krankheit. An ihr leidet ein anderer, jemand, dessen kranker Teil ich bin, denn ich empfinde tatsächlich, als gehörte ich zu einer größeren Wahnehmungsfähigkeit. Ich bin wie ein besonderes Gewebe, oder vielmehr wie eine Zelle, auf der die ganze Verantwortung eines Organismus lastet.
Wenn ich denke, dann weil ich abschweife; wenn ich träume, dann weil ich wach bin. Alles in mir gerät mir durcheinander mit mir, und nichts in mir versteht mehr zu sein.