Zumindest einen neuen Pessimismus ins Leben rufen, eine neue Negation, damit wir uns der Illusion hingeben können, etwas von uns – auch wenn es nicht zum Guten gereicht – bliebe!
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»Worüber lachen Sie?« fragte arglos Moreiras Stimme zwischen den beiden Regalen zu meinem erhöhten Arbeitsplatz hin.
»Ich habe Namen verwechselt …«, während ich dies sagte, beruhigten sich meine Lungen.
»Ach«, entgegnete Moreira rasch, und staubige Stille legte sich erneut über das Büro und über mich.
Der Herr Vicomte de Chateaubriand hier bei der Buchführung! Der Herr Professor Amiel hier auf einem königlich hohen Hocker! Der Herr Comte Alfred de Vigny beim Rechnungenschreiben für das Kaufhaus Grandela! Senancour[75] in der Rua dos Douradores!
Nicht einmal der arme Paul Bourget[76] , dessen Bücher so ermüdend sind wie ein Treppenhaus ohne Aufzug … Ich drehe mich nach dem Fenster um und schaue hinaus, um meinen Boulevard Saint Germain noch einmal genau ins Auge zu fassen, in just diesem Augenblick spuckt der Sozius des Plantagenbesitzers von nebenan auf die Straße.
Und zwischen dem Nachdenken über all dies und dem Rauchen, ohne das eine recht mit dem anderen zu verbinden, trifft mein geistiges Lächeln auf den Rauch, verheddert sich in meiner Kehle und tritt mit einem verhaltenen Lachanfall hörbar zutage.
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Manchen mag dieses von mir für mich geschriebene Tagebuch zu künstlich vorkommen. Aber alles Künstliche entspricht meinem Naturell. Womit sonst könnte ich mich unterhalten, wenn nicht mit dem sorgfältigen Aufzeichnen meines geistigen Lebens? Im übrigen ist die Sorgfalt, die ich darauf verwende, nicht allzu groß. Ich bemühe mich weder um eine besondere Anordnung noch um eine ausgefeilte Form. Ich denke dabei ganz selbstverständlich in der mir eigenen gewählten Sprache.
Ich bin ein Mensch, für den die äußere Welt eine innere Wirklichkeit ist. Ich nehme dies nicht metaphysisch wahr, sondern mit den Sinnen, mit denen wir die Wirklichkeit für gewöhnlich in uns aufnehmen.
Unsere Leichtfertigkeit von gestern ist heute eine beständige Sehnsucht, die mein Leben zermürbt.
In dieser Stunde liegen Klöster. Der Tag verlischt über unseren Ausflüchten. In den blauen Augen der Teiche spiegelt eine letzte Verzweiflung das Sterben der Sonne. So vielerlei waren wir in den alten Gärten; so sinnlich fanden wir uns wieder in der Gestalt der Statuen, im englischen Zuschnitt der Alleen. Gewänder, Florette, Perücken, Verbeugungen und Prozessionen, so sehr waren sie Teil unserer geistigen Substanz. Doch wer ist »wir«? Der Strahl, mehr nicht, im Brunnen des verlassenen Parks, beschwingtes Wasser, das nur schwer noch aufsteigt bei seinem traurigen Versuch zu fliegen.
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… und die Lilien an den Ufern ferner Flüsse, kalt und feierlich, an einem nicht endenden Tagesende inmitten wirklicher Kontinente.
Nicht mehr, und dennoch wahr.
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(lunar scene)
Diese ganze Landschaft ist nirgendwo.
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Unten, in einem Gefälle sich abwärts ziehender Schatten, fern der Höhe, auf der ich stehe, schläft eisig im Mondlicht die Stadt.
Verzweiflung über mich, tiefe Angst, für immer in mir gefangen zu sein, überkommt mich, setzt sich fest in mir, und ich bin nur mehr Zärtlichkeit, Furcht, Schmerz und Untröstlichkeit.
Ein so unerklärliches Übermaß an absurdem Kummer, ein so trostloser Schmerz, so gottverlassen, so metaphysisch mein […]
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Ungewiß und schweigend breitet sich die Stadt vor meinen sehnsüchtigen Augen aus.
Die Häuser, alle verschieden, bilden eine in sich ruhende Masse, ein regloses Auf und Ab im Perlmutt des ungewiß gefleckten Mondlichts. Dächer und Schatten, Fenster und Mittelalter. Für Vororte kein Platz. Auf allem Sichtbaren liegt ein Hauch von Ferne. Über mir die schwarzen Äste von Bäumen, und in meinem entmutigten Herz der Schlaf der ganzen Stadt. Lissabon im Mondlicht, und müde schon mein Morgen!
Was für eine Nacht! Wer auch immer Urheber der kleinen Dinge dieser Welt war, es hat ihm gefallen, daß die angenehmste Befindlichkeit, die schönste Melodie für mich dieser verlorene Moment im Mondlicht ist, in dem ich mich kennend nicht wiedererkenne.
Kein Lufthauch, kein Mensch unterbricht, was ich nicht denke. Ich bin so müde, wie ich munter bin. Nur meine Augenlider fühlen sich an, als mache sie etwas schwer. Ich höre mich atmen. Schlafe ich, oder bin ich wach?
Meine Füße heimwärts zu bewegen ist ein bleischweres Unterfangen meiner Sinne. Die Süße des Verlöschens, die Blume, Geschenk des Nutzlosen, mein nie ausgesprochener Name, meine Unruhe zwischen Ufern, das Privileg überlassener Pflichten und, hinter der letzten Biegung des uralten Parkes, wie ein Rosengarten das andere Jahrhundert.
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Ich betrat wie gewohnt das Friseurgeschäft, glücklich, so leicht und ungehemmt mir bekannte Häuser betreten zu können. Meine Scheu vor Neuem ist beängstigend: Ruhig bin ich nur, wo ich schon gewesen bin.
Während ich mich in den Stuhl setzte, fragte ich beiläufig den jungen Friseur, der mir einen kühlen, sauberen Frisiermantel um die Schultern legte, wie es seinem Kollegen vom benachbarten rechten Stuhl ginge, einem älteren, witzigen Menschen, der krank war. Ich fragte nicht, weil ich mich dazu verpflichtet fühlte, sondern weil Ort und Erinnerung dazu einluden. »Er ist gestern gestorben«, erwiderte tonlos die Stimme, die hinter dem Frisiermantel und mir stand, während sich ihre Finger von dem Tuch zwischen meinem Nacken und meinem Kragen lösten. Meine ganze unvernünftig gute Laune war dahin wie der für immer abwesende Friseur des benachbarten Stuhls. Es wurde kalt in all meinen Gedanken. Ich sagte kein Wort.
Sehnsucht! Ich verspüre sie sogar nach dem, was mir nichts bedeutet hat, aus Angst vor der vergehenden Zeit und dank einer Krankheit, die Geheimnis des Lebens heißt. Wenn ich die gewohnten Gesichter aus meinen gewohnten Straßen nicht mehr sehe, werde ich betrübt; und doch haben sie mir nichts bedeutet; sie waren nur ein Symbol des Lebens für mich.
Der langweilige Alte mit den schmutzigen Gamaschen, der häufig morgens gegen halb zehn meinen Weg kreuzte? Der hinkende Losverkäufer, der mir vergeblich auf die Nerven ging? Der rundliche Alte mit der frischen Gesichtsfarbe und der Zigarre an der Tür des Tabakladens? Der blasse Inhaber des Tabakladens? Was ist aus ihnen allen geworden, die, weil ich sie regelmäßig sah, einen Teil meines Lebens ausmachten? Morgen werde auch ich aus der Rua da Prata, aus der Rua dos Douradores, aus der Rua dos Fanqueiros verschwinden. Morgen werde auch ich – diese denkende, fühlende Seele, dieses Universum, das ich für mich bin –, ja, morgen werde ich derjenige sein, der nicht mehr durch diese Straßen geht, und andere werden mich mit einem: »Was ist wohl aus ihm geworden?« aus der Vergessenheit zurückrufen. Und alles, was ich tue, alles, was ich fühle, alles, was ich erlebe, wird nicht mehr sein als ein Passant weniger im Alltag der Straßen irgendeiner Stadt.
Die Großen Texte
Pessoa trug sich ursprünglich mit dem Gedanken, einige dieser in den zehner Jahren des 20. Jahrhunderts unter der Bezeichnung Große Texte zusammengefaßten Arbeiten gesondert zu veröffentlichen (siehe Anhang IV).