Millimeter (Wahrnehmungen kleinster Dinge)
Die Gegenwart ist uralt, da alles, als es existierte, Gegenwart war; und so empfinde ich für Dinge, da sie der Gegenwart angehören, die Liebe eines Antiquitätenhändlers und die Empörung eines übervorteilten Sammlers, den man mit plausiblen oder gar wissenschaftlich fundierten Argumenten um seine irrigen Vorstellungen über Dinge gebracht hat.
Die verschiedenen Positionen, die ein fliegender Schmetterling nacheinander im Raum einnimmt, sind für meine verwunderten Augen verschiedene Dinge, die im Raum sichtbar bleiben. Meine Erinnerungen sind so lebendig, daß […] Doch wirklich intensiv erlebe ich nur die kleinsten Wahrnehmungen allerkleinster Dinge. Vielleicht hat dies mit meiner Vorliebe für Belangloses zu tun. Oder aber mit meinem besonderen Interesse für das Detail. Doch ich glaube eher – sicher bin ich mir nicht, da dies Dinge sind, die ich niemals analysiere –, es hat vielmehr damit zu tun, daß das Kleinste, da ihm gesellschaftlich und praktisch keinerlei Bedeutung zukommt, aus genau diesem Grund absolut frei ist von schmutzigen Assoziationen mit der Wirklichkeit. Das Kleinste schmeckt mir nach Unwirklichem. Das Nutzlose ist schön, weil es weniger wirklich ist als das Nützliche, das fortdauert und weiterführt, während das wunderbar Belanglose, das rühmlich winzig Kleine bleibt, wo es ist, und nicht mehr ist, als es ist, und frei und unabhängig lebt. Das Nutzlose und das Belanglose eröffnen in unserem wirklichen Leben Zeiträume von bescheidener Ästhetik. Die bloße, unbedeutende Existenz einer Anstecknadel vermag in meiner Seele die zärtlichsten Freuden und Phantasien wachzurufen! Und wer um dies alles nicht weiß, um den ist es traurig bestellt!
Ferner ist unter den Wahrnehmungen, die so tief schmerzen, daß sie bereits wieder angenehm werden, die vom Geheimnis ausgehende Unruhe eine der häufigsten und vielschichtigsten. Und das Geheimnis wird nie so sichtbar wie beim Betrachten kleinster Dinge, die sich nicht bewegen, daher ganz und gar durchscheinend sind und dem Geheimnis erlauben, zutage zu treten. Das Geheimnis ist jedoch sehr viel schwerer wahrnehmbar, wenn man eine Schlacht betrachtet – obgleich die Vergegenwärtigung des Unsinnigen menschlicher und gesellschaftlicher Auseinandersetzungen in unseren Köpfen die Fahne des Sieges über das Geheimnis am weitesten zu entfalten vermag –, als beim Betrachten eines kleinen reglosen Steins auf einer Straße, der, da er keine andere Vorstellung als die seiner Existenz auslöst, uns, sofern wir weiter darüber nachdenken, unweigerlich zum Geheimnis seiner Existenz führt.
Gesegnet seien Augenblicke, Millimeter und Schatten kleiner Dinge, die noch bescheidener sind als sie selbst! Augenblicke […]. Millimeter – ich bin erstaunt, wie kühn sie sich Seite an Seite und so eng beieinander auf einem Meterband behaupten. Bisweilen schmerzen und erfreuen mich derlei Dinge, und ich empfinde ungezügelten Stolz.
Ich bin eine extrem aufnahmefähige photographische Platte. Alle Einzelheiten graben sich mir im Verhältnis zum Ganzen unproportional deutlich ein. Ich beschäftige mich ausschließlich mit mir. Die Außenwelt ist für mich reine Wahrnehmung. Nie vergesse ich, daß ich wahrnehme.
Im Wald der Entfremdung
Ich weiß, ich bin wach und schlafe noch. Mein alter, vom Leben müder Körper sagt mir, daß es noch sehr früh ist … Ich fühle ein fernes Fieber. Ich laste auf mir, weiß nicht warum …
Klar, schwer, unkörperlich benommen liege ich da, halb schlafend, halb wach, träume, träume vage. Meine Aufmerksamkeit treibt zwischen zwei Welten und sieht blind die Tiefe eines Ozeans und eines Himmels; und diese Tiefen verbinden sich, durchdringen sich; ich weiß nicht, wo ich bin noch was ich träume.
Ein Schattenwind bläst die Asche gescheiterter Absichten über das, was wach ist von mir. Lauer Tau des Überdrusses fällt von einem unbekannten Firmament. Übermächtige, dumpfe Angst greift innen nach meiner Seele und verändert mich, zögernd, wie ein leichter Wind die Silhouette der Baumwipfel.
In meiner lauen, morbiden Kammer ist das Morgengrauen draußen nur ein dämmriger Hauch. Ich bin ganz stille Verwirrung … Warum muß ein neuer Tag anbrechen? … Ich weiß, daß er anbrechen wird, und dieses Wissen fällt mir so schwer, als müßte ich handeln, damit er dies tut.
Langsam, wie betäubt, werde ich ruhig, erschlaffe. Treibe in der Luft, zwischen Wachen und Schlafen; eine andere Wirklichkeit entsteht und ich in ihr, woher sie kommt, ich weiß es nicht …
Sie entsteht, ohne die unmittelbare Wirklichkeit dieser lauen Kammer auszulöschen, wird Wirklichkeit eines befremdlichen Waldes. Zwei Wirklichkeiten in meiner gebannten Aufmerksamkeit, zweierlei Rauch, der sich mischt.
Und diese flimmernde, durchscheinende Landschaft, so klar in der eigenen und in der fremden Wirklichkeit! …
Und wer ist diese Frau, die gemeinsam mit mir diesen fremden Wald in ihren Blick hüllt? Warum jetzt halte ich inne und frage? … Ich weiß nicht einmal, ob ich es wissen will …
Die dämmrige Kammer ist eine dunkle Scheibe, durch die ich diese Landschaft bewußt wahrnehme … eine Landschaft, die ich seit langem kenne und durch die ich seit langem mit dieser Frau, die ich nicht kenne, als eine Wirklichkeit durch ihre Unwirklichkeit irre. Ich fühle es in mir, seit Jahrhunderten kenne ich diese Bäume, diese Blumen, diese Wege und Irrwege und dieses ferne Ich, das dort umherwandert, alt und sichtbar für meinen Blick, verschattet vom Wissen, daß ich in dieser Kammer bin.
Durch diesen Wald, in dem ich mich von ferne sehe und fühle, treibt bisweilen ein langsamer Wind Rauch, und mit diesem Rauch erscheint klar und dunkel das Bild der Kammer, in der ich hier und jetzt bin, mit ihren schattenhaften Möbeln und Vorhängen und ihrer nächtlichen Benommenheit. Dann verfliegt dieser Wind, und die Landschaft dieser anderen Welt wird wieder ganz sie selbst.
Andere Male ist dieses enge Zimmer nur Aschnebel am Horizont dieses anderen Landes … Dann wieder ist für Augenblicke der Boden, den wir dort betreten, diese sichtbare Kammer …
Ich träume und verliere mich, bin zweifach, in mir und der fremden Frau … Tiefe Müdigkeit verzehrt mich mit ihrem schwarzen Feuer … Tiefe, untätige Sehnsucht beengt mich mit ihrem falschen Leben …
O trübes Glück! … O ewiges Zögern, wo Wege sich kreuzen! … Ich träume, und hinter meiner Aufmerksamkeit träumt jemand mit mir … Und vielleicht bin ich nur ein Traum dieses nicht existenten Jemands …
Draußen die Morgendämmerung so fern! So nah der Wald vor meinen anderen Augen!
Und kaum bin ich fern dieser Landschaft, vergesse ich sie fast, habe ich sie, sehne ich mich nach ihr, durchwandere ich sie, rührt sie mich zu Tränen, und ich wünsche sie herbei …
Die Bäume! Die Blumen! Das dichtbelaubte Sich-Verstecken der Wege! …
Bisweilen gingen wir Arm in Arm dahin unter den Zedern und Judasbäumen, und keiner von uns dachte daran zu leben. Unser Fleisch war uns ein vager Duft und unser Leben das Echo einer Quelle. Wir nahmen uns bei der Hand, und unsere Augen fragten sich, wie es wohl wäre, sinnlich zu sein, und wie, die Illusion der Liebe im Fleisch zu verwirklichen …
In unserem Garten gab es Blumen aller Schönheiten … Rosen, eingerollt an den Blättern, Lilien von vergilbendem Weiß, Mohn, unsichtbar, hätte ihn nicht sein Rot verraten, Veilchen am Tuffsteinrand der Beete, winzige Vergißmeinnicht, duftlose Kamelien … Und über den hohen Gräsern betrachteten uns hier und dort Sonnenblumen erstaunt mit großen Augen.
Unsere Seele, ganz Blick, strich über die sichtbare Frische des Mooses, und bei den Palmen war uns, als wären wir in einem anderen Land … Und Tränen stiegen auf bei dem Gedanken, denn nicht einmal hier, wo wir glücklich waren, waren wir es …