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Gleichmütig lese ich erneut – und empfinde sie wie eine Inspiration, eine Befreiung – die einfachen Sätze Caeiros[10]  , die auf das verweisen, was sein kleines Dorf vermag. Von diesem Dorf aus, sagt er, könne man, da es so klein sei, mehr von der Welt sehen als von der Stadt aus, und deshalb sei sein Dorf größer als die Stadt …

»Denn ich bin so groß wie das, was ich sehe,Und nicht so groß, wie ich bin.«[11]  

Sätze wie diese, die ohne einen sie diktierenden Willen zu wachsen scheinen, reinigen mich von aller Metaphysik, die ich spontan dem Leben hinzufüge. Nachdem ich sie gelesen habe, trete ich an mein Fenster über der engen Straße, betrachte den großen Himmel und seine vielen Gestirne und bin frei mit einem beflügelnden Glanz, dessen Schwingung in meinem ganzen Körper nachbebt.

»Ich bin so groß wie das, was ich sehe!« Jedesmal, wenn ich diesen Satz mit der gesammelten Aufmerksamkeit meiner Nerven denke, scheint er mir mehr dazu bestimmt, das Weltall mit all seinen Sternen wieder zu errichten. »Ich bin so groß wie das, was ich sehe!« Welch große geistige Besitzergreifung vom Brunnen der tiefen Gefühle bis hin zu den hohen Sternen, die sich in ihm spiegeln und in gewisser Weise dort sind!

Und nun betrachte ich im Bewußtsein, daß ich zu sehen verstehe, die weite objektive Metaphysik aller Himmel mit einer Sicherheit, die in mir das Verlangen weckt, singend zu sterben. »Ich bin so groß wie das, was ich sehe!« Und der ungewisse, mir gehörende Mondschein beginnt die halbschwarze Bläue des Horizonts mit seiner Unbestimmtheit zu trüben.

Ich möchte meine Arme heben und Dinge von unbekannter Wildheit herausschreien, den hohen Mysterien Worte zurufen, den großen Räumen der leeren Materie eine neue weitgespannte Persönlichkeit bestätigen.

Doch ich gehe in mich und werde sanft. »Ich bin so groß wie das, was ich sehe!« Dieser Satz bleibt mir und erfüllt meine Seele; an ihn lehne ich all meine Gefühle, und von innen her – wie über die Stadt von außen – kommt der unbeschreibliche Friede des harten Mondlichts über mich, das sich langsam mit der Dämmerung ausbreitet.

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… im traurigen Durcheinander meiner verworrenen Gefühle …

Eine Traurigkeit des Untergangs, schwer vor Erschöpfung und falscher Entsagung, ein Überdruß bei der geringsten Empfindung, ein Schmerz wie bei einem unterdrückten Schluchzen oder einer enthüllten Wahrheit. In meiner verträumten Seele entfaltet sich eine Landschaft der Entsagung – Alleen unterlassener Gesten, höhe Blumenbeete nicht einmal gut geträumter Träume, Widersprüche, die wie Buchsbaumhecken verwaiste Wege teilen, Vermutungen wie alte Teiche, deren Fontänen versiegt sind, alles verwirrt sich und tritt erbärmlich zutage im traurigen Durcheinander meiner verworrenen Gefühle.

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Um verstehen zu können, habe ich mich zerstört. Verstehen heißt das Lieben vergessen. Ich kenne nichts, was zugleich falscher und bedeutsamer wäre als der Ausspruch Leonardo da Vincis, demnach wir etwas nur lieben oder hassen können, wenn wir es verstanden haben.

Die Einsamkeit zerstört mich; die Geselligkeit bedrückt mich. Die Gegenwart einer anderen Person wirft meine Gedanken aus der Bahn; ich träume von ihrer Gegenwart mit einer Geistesabwesenheit, wie sie meine gesamte analytische Aufmerksamkeit nicht zu beschreiben vermag.

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Die Isolation hat mich nach ihrem Bild und Gleichnis geformt. Die Gegenwart einer anderen Person – wer auch immer sie sein mag – verlangsamt sogleich mein Denken, und während für einen normalen Menschen der Kontakt mit anderen wie ein Stimulus auf seine Ausdrucksweise und sein diskursives Denken wirkt, ist dieser Kontakt für mich ein Gegen-Stimulus, falls dieses zusammengesetzte Wort überhaupt sprachlich zulässig ist. Allein mit mir, bin ich zu unzähligen geistreichen Bemerkungen imstande, zu raschen Antworten auf nie Gesagtes, zu funkelnden Geistesblitzen eines intellektuellen Austausches mit Herrn Niemand; aber all dies löst sich in nichts auf, wenn mir jemand körperlich gegenübertritt; ich vermag nicht mehr zu denken, weiß mich nicht mehr zu äußern und fühle mich nach einiger Zeit nur noch müde. Jawohl, mit anderen reden macht mich schläfrig. Nur meine gespenstischen, imaginären Freunde, nur meine im Traum geführten Gespräche erweisen sich als wirklich, wahrhaftig und profiliert, in ihnen ist Geist gegenwärtig wie ein Bild in einem Spiegel.

Zudem belastet mich der Gedanke, mit jemand anderem in Kontakt treten zu müssen. Eine schlichte Einladung zu einem Abendessen mit einem Freund versetzt mich in eine schwer zu beschreibende Angst. Der Gedanke an eine gesellschaftliche Verpflichtung, welcher Art auch immer, sei es die Teilnahme an einer Beerdigung, ein geschäftliches Gespräch oder ein Gang zum Bahnhof, um dort jemanden, den ich kenne oder nicht kenne, in Empfang zu nehmen – allein der Gedanke daran bringt mich einen Tag lang, bisweilen bereits am Abend zuvor, aus dem Konzept; ich schlafe schlecht, und wenn es dann wirklich soweit ist, verläuft alles völlig problemlos, und die Aufregung erweist sich als absolut unnötig; aber jedes Mal ist es wieder dasselbe, ich werde nie lernen, etwas daraus zu lernen.

»Meine Gewohnheiten werden von der Einsamkeit bestimmt, nicht von den Menschen«; ich weiß nicht, ob Rousseau dies gesagt hat oder Senancour. Jedenfalls war es ein Denker meines Schlags – um nicht zu sagen meiner Rasse.

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In Abständen folgt blau-weiß blinkend ein Leuchtkäfer sich selbst. Ringsum ist die dunkle ländliche Landschaft ein großes Fehlen von Lärm, und es riecht beinahe angenehm. Der Friede von allem ist schmerzlich und bedrückend. Ein gestaltloser Überdruß erstickt mich.

Ich fahre nur selten aufs Land, bleibe dort fast nie einen ganzen Tag, geschweige denn von einem Tag auf den anderen. Heute aber, da der Freund, in dessen Haus ich mich aufhalte, mir nicht gestattete, seine Einladung nicht anzunehmen, kam ich so verlegen hierher – wie ein schüchterner Mensch auf ein großes Fest –, ich war fröhlich, hatte meine Freude an der Luft und der weiten Landschaft, speiste gut zu Mittag und zu Abend, doch jetzt, im Dunkel, in meinem Zimmer ohne Licht, erfüllt mich dieser ungewisse Ort mit Angst.

Das Fenster des Zimmers, in dem ich schlafen werde, geht auf ein weites Feld, das alle Felder ist, auf eine große, unklar bestirnte Nacht mit einem leichten Wind, der nicht zu vernehmen, wohl aber zu spüren ist. Am Fenster sitzend betrachte ich mit meinen Sinnen dieses Nichts universellen Lebens draußen. Die Stunde birgt das Gefühl einer beunruhigenden Harmonie, sie reicht von der sichtbaren Unsichtbarkeit des Ganzen bis zu dem leicht gefurchten Holz unter der abgeblätterten Farbe der weiß schimmernden Fensterbrüstung, auf die sich meine Linke seitlich stützt.

Wie oft sehne ich mich nicht visuell nach diesem Frieden, vor dem ich jetzt nahezu fliehen möchte, könnte ich es nur ohne weiteres, und wäre es nicht unschicklich! Wie oft vermeine ich nicht – dort unten, in der Stadt mit ihren engen Straßen und hohen Häusern –, zu glauben, der Friede, die Prosa, das Endgültige seien eher hier, unter den Dingen der Natur, zu finden als dort, wo das Tischtuch der Zivilisation die bereits bemalte Kiefer vergessen läßt, auf der es liegt! Und jetzt, hier, wo ich mich gesund und wohlig müde fühle, bin ich unruhig, befangen, voller Sehnsucht.