Anteros[83]
Ich habe von der tiefen Liebe und ihrer Nützlichkeit eine oberflächliche und dekorative Vorstellung. Ich bin den visuellen Leidenschaften verfallen. Halte so mein Herz im Takt für weitere unwirkliche Bestimmungen.
Ich kann mich nicht erinnern, je mehr an jemandem geliebt zu haben als sein »Bild«, das reine Äußere, in dem die Seele die Rolle der Belebenden einnimmt, ihm Leben einhaucht und somit ein anderes Bild malt, als Maler dies tun.
Und so liebe ich: Ich fasse eine Gestalt ins Auge, weil sie schön ist, anziehend oder was auch immer, liebenswürdig, gleich ob Mann oder Frau – denn, wo kein Begehren ist, ist das Geschlecht einerlei –, und diese Gestalt, das Bild, das ich von ihr habe, macht mich blind, nimmt mich gefangen, hält mich besetzt. Und doch will ich nur sehen, nichts würde mich mehr verschrecken als die Möglichkeit, [?] die Person, die dieses Bild sichtbar darstellt, kennenzulernen oder zu sprechen.
Ich liebe ausschließlich mit meinem Blick und nicht mit meiner Vorstellungskraft. Mit anderen Worten, ich stelle mir die Gestalt, die mich gefangennimmt, in keiner Weise vor. Ich bin also ausschließlich durch den Blick an sie gebunden, denn dekorativ, wie meine Liebe ist, fehlt ihr jedes tiefere psychologische Interesse[?]. Mir ist einerlei, wer diese Kreatur ist, deren Äußeres ich sehen kann, was sie denkt und was sie tut.
Die unendliche Abfolge von Personen und Dingen, aus der die Welt besteht, ist für mich eine endlose Bildergalerie, deren innere Dimension mich nicht interessiert. Und dies, weil die Seele eintönig und die immer gleiche in allen Menschen ist; sie äußert sich nur auf unterschiedliche Art, das Beste an ihr geht über in Träume, Verhalten und Gesten und fließt auf diese Weise ein in das Bild, das mich fesselt und in dem ich Gesichter sehe, die meiner Zuneigung entsprechen.
Ein menschliches Wesen hat für mich keine Seele. Die Seele ist eine Sache für sich.
Somit erlebe ich, im reinen Blick, das belebte Äußere von Dingen und Wesen, gleichgültig – wie ein Gott aus einer anderen Welt – gegenüber ihrem geistigen Inhalt. Ich ergründe ihr Wesen einzig anhand der Oberfläche, und will ich Tiefe, suche ich sie in mir und meiner Vorstellung von den Dingen.
Was bringt es mir, einen Menschen, den ich als décor liebe, näher zu kennen? Nun, ich kann nicht enttäuscht werden, da ich an ihm nur das Äußere liebe und nichts hineinlege, Dummheit oder Mittelmaß können diesem Bild nichts anhaben, denn ich habe nichts erwartet außer dem Äußeren, und das Äußere war bereits da und besteht weiter. Alles nähere Kennen ist abträglich, denn es ist unnütz. Und materiell unnütze Dinge sind immer abträglich. Wozu den Namen einer Person wissen? Und doch ist er das erste, das man über sie erfährt, wird man einander vorgestellt.
Das Einanderkennen bedarf auch der Freiheit des Betrachtens, nach ihr verlangt meine Art des Liebens. Aber einen uns näher bekannten Menschen können wir nicht frei nach Belieben ansehen und betrachten.
Alles Mehr ist ein Weniger für den Künstler, denn es stört und verringert den gewünschten Effekt.
Mein natürliches Schicksal als uneingeschränkt leidenschaftlicher Betrachter alles Äußeren, aller Manifestation der Dinge – Objektivist von Träumen, visueller Liebhaber von Formen und Aspekten der Natur […] Es handelt sich hierbei weder um psychische Onanie noch um Erotomanie, wie es im Sprachgebrauch der Psychiater heißt. Die Phantasie bleibt, anders als bei der geistigen Selbstbefriedigung, ausgeschaltet, ich träume nicht von mir als Liebhaber im Fleisch oder auch nur als Freund der Person, die ich betrachte oder in meiner Erinnerung sehe: Ich stelle mir absolut nichts von ihr vor. Und anders als ein dem Liebeswahn Verfallener idealisiere ich sie weder, noch hebe ich sie über die konkrete ästhetische Sphäre hinaus: Ich verlange und denke nicht mehr von dieser Person als das, was sie meinen Augen zeigt und der unmittelbaren und reinen Erinnerung dessen, was meine Augen gesehen haben.
Der visuelle Liebhaber II
Nicht einmal die Gestalten, die ich mehr als gerne betrachte, umgarne ich mit Fäden der Phantasie. Ich sehe sie, und ihr Wert für mich besteht einzig in ihrem Sichtbarsein. Alles, was ich ihnen hinzufügte, verringerte sie, denn es verringerte sozusagen ihre »Sichtbarkeit«.
Was immer ich mir zu ihnen vorstellte, ich würde es auf der Stelle als falsch erkennen; und erfreut mich der Traum, so mißfällt mir das Falsche. Der reine Traum entzückt mich, der Traum, der weder einen Bezug zur Wirklichkeit hat noch einen Anknüpfungspunkt mit ihr. Der unvollkommene, im Leben angesiedelte Traum ist mir zuwider, oder besser, er wäre mir zuwider, gäbe ich mich ihm hin.
Die Menschheit ist für mich ein ausladendes, schmückendes Motiv, das durch unsere Augen und Ohren lebt und auch durch die Emotion. Ich wünsche mir vom Leben nur eines, der Menschheit als Betrachter beiwohnen zu können. Und von mir wünsche ich mir, dem Leben als Betrachter beiwohnen zu können.
Ich bin wie ein Wesen aus einer anderen Existenz, das diese hier unbestimmt interessiert durchlebt. Ich bin ihr in allem fremd. Zwischen ihr und mir befindet sich eine Glasscheibe. Ich möchte dieses Glas immer gänzlich klar wissen, um alles hinter dieser Scheibe ungehindert prüfen zu können und ohne je auf die Scheibe verzichten zu müssen.
Für jeden wissenschaftlichen Geist bedeutet, in einer Sache mehr zu sehen, als in ihr ist, sie weniger zu sehen. Was man ihr materiell hinzufügt, verringert sie geistig.
Mein Widerwille gegen Museen ist wohl auf diese seelische Beschaffenheit zurückzuführen. Das Leben ist das einzig akzeptable Museum für mich, in ihm sind die Bilder immer stimmig, Unstimmigkeit kann es nur in der Unzulänglichkeit des Betrachters geben. Doch versuche ich diese Unzulänglichkeit auf ein Mindestmaß zu reduzieren, und sofern ich dazu nicht in der Lage bin, begnüge ich mich damit, daß dem so ist, denn es ist wie alles nun einmal nicht zu ändern.
Der Major
Nichts enthüllt mir so vertraulich und vermittelt mir so uneingeschränkt die Substanz meines angeborenen Unglücks wie die Form der Träumerei, die ich tatsächlich am zärtlichsten liebe, den Balsam, den ich heimlich am häufigsten wähle, um meine tiefe Lebensangst zu lindern. Die Quintessenz dessen, was ich wünsche, ist dies: das Leben zu schlafen. Ich liebe das Leben zu sehr, um es mir gelebt zu wünschen; ich liebe das ungelebte Leben zu sehr, um ein unangebrachtes Verlangen nach ihm zu verspüren.
Deshalb ist mir der Traum, den ich hier niederschreibe, der liebste von all meinen Träumen. Abends, wenn es still ist in der Wohnung, da die Vermieter ausgegangen oder in Schweigen verfallen sind, verschließe ich mein Fenster bisweilen mit den schweren Innenläden, mache es mir, in einem alten Anzug, in meinem tiefen Sessel bequem und gebe mich dem Traum hin, in dem ich ein Major außer Dienst bin, der in einem Hotel in der Provinz nach dem Abendessen mit dem einen oder anderen etwas nüchterneren Tischgenossen als er selbst träge und grundlos zusammensitzt.
So, stelle ich mir vor, bin ich geboren. Die Jugend des Majors im Ruhestand interessiert mich sowenig wie seine militärischen Rangstufen, über die er dahin gekommen ist, wonach es mich sehnt. Unabhängig von Zeit und Leben besitzt der Major, der ich mir vorstelle zu sein, kein Vorleben, noch hat oder hatte er Familie; er lebt ewig in diesem Leben jenes Provinzhotels, müde schon der Unterhaltungen und Witze mit den Gefährten seines Verweilens.
Der Fluß des Besitzens
Daß wir alle verschieden sind, ist ein Grundsatz unserer Natur. Nur von fern sind wir einander ähnlich, aus der Nähe besehen aber nicht gleich. Daher gehört das Leben den Unbestimmten; zusammenleben können nur solche, die sich nie festlegen und einer wie der andere Niemande sind.