Выбрать главу

Dieses Verhalten, das sich durch starkes Träumen in mir verhärtet hat, läßt mich stets die Traumseite der Wirklichkeit sehen. Meine Sicht der Dinge klammert alles aus, was meinem Traum nicht von Nutzen ist. Und so lebe ich immer im Traum, auch wenn ich im Leben lebe. Ob ich einen Sonnenuntergang träume oder außerhalb von mir betrachte, ist für mich ein und dasselbe, denn ich sehe beide auf ein und dieselbe Weise, mein Blick nimmt in beiden Fällen dasselbe wahr.

Deshalb mag die Vorstellung, die ich von mir habe, vielen falsch vorkommen. Das ist sie in gewisser Weise auch. Doch ich träume mich selbst, nehme das von mir, was träumbar ist, und setze mich so wieder und wieder auf alle nur möglichen Arten neu zusammen, bis ich meiner Vorstellung entspreche von dem, was ich bin und nicht bin. Bisweilen übersieht man ein Objekt am besten; und doch besteht es auf unerklärliche Weise weiter, und zwar aus dem Stoff des Leugnens und des Übersehens, so schaffe ich die großen wirklichen Räume meines Seins, die mich, auch wenn ich sie in meinem Bild von mir unterdrückt habe, in das, was ich wirklich bin, verwandeln.

Wie also täusche ich mich nicht hinsichtlich meiner eigenen Illusionsprozesse? Nun, dieselben Prozesse, die einer mehr als wirklichen Wirklichkeit eine Weltsicht oder eine Traumgestalt aufdrängen, drängen auch dem mehr als Wirklichen eine Emotion oder einen Gedanken auf und berauben es zugleich allen edlen, reinen Beiwerks, das meist weder das eine noch das andere ist. Man bemerke, meine Objektivität ist absolut, die absoluteste aller Objektivitäten. Ich schaffe das absolute Objekt mit Qualitäten des Absoluten in seinem Konkreten. Ich bin nicht eigentlich vor dem Leben geflohen, insofern, als ich nicht nach einem weicheren Bett für meine Seele gesucht habe, ich habe nur Leben gewechselt und in meinen Träumen die gleiche Objektivität gefunden wie im Leben. Meine Träume – ich gehe darauf näher an anderer Stelle ein – steigen unabhängig von meinem Willen in mir auf und sind oft erschreckend und verletzend für mich. Sehr oft erfüllt mich, was ich in mir entdecke, mit Kummer, mit Scham (vielleicht ein Rest Menschlichkeit in mir – was überhaupt ist Scham?) und mit Schrecken.

Meine ständige Träumerei ist an die Stelle der Aufmerksamkeit getreten. Ich habe mir angewöhnt, Dinge, die ich gesehen habe, auch im Traum, mit anderen Träumen, die ich in mir trage, zu überdecken. Ich bin bereits so unaufmerksam, daß ich »die Dinge im Traum« klar sehen kann, und darüber hinaus, denn diese Unaufmerksamkeit ist in meinen beständigen Tagträumen begründet sowie in einer ebenfalls nicht übermäßig aufmerksamen Sorge um meinen Traumfluß, überdecke ich noch den Traum, den ich sehe, mit dem, was ich träume, und kreuze die bereits ihrer Materie beraubte Wirklichkeit mit einer absoluten Immaterialität.

Daher kann ich auch mehrere Ideen gleichzeitig verfolgen, bestimmte Dinge betrachten und zugleich von ganz unterschiedlichen Dingen träumen, nämlich von einem wirklichen Sonnenuntergang über einem wirklichen Tejo und von einem geträumten Morgen an einem inneren Pazifik; und die beiden geträumten Dinge überlagern sich, ohne miteinander zu verschmelzen, ohne etwas zu vermengen, mit Ausnahme der unterschiedlichen Empfindungen, die sie in mir hervorrufen, und es ist, als sähe ich viele Menschen durch die Straße gehen und fühlte zugleich ihre Seelen (was nur in einer Einheit des Wahrnehmens geschehen könnte) in genau dem Augenblick, in dem ich verschiedene Körper (die ich nur einzeln sehen könnte) in einer Bewegung unzähliger Beine aneinander vorbeigehen sähe.

Anhang

I.  Texte, die auf den Namen Vicente Guedes verweisen

Vicente Guedes war über Jahre ein von Pessoa für das Buch der Unruhe als Autor vorgesehenes Heteronym, ehe es durch Bernardo Soares ersetzt wurde. Seine psychische Struktur und Geisteshaltung kommt der des Baron von Teive, eines anderen pessoanischen Heteronyms und »Autor« von Die Erziehung zum Stoiker[90]  , sehr nahe.

Meine Bekanntschaft mit Vicente Guedes ergab sich rein zufällig. Wir waren uns des öfteren in einem ruhigen, preiswerten Restaurant begegnet. Wir kannten uns vom Sehen und begannen uns wie selbstverständlich stillschweigend zu grüßen. Eines Tages fanden wir uns am selben Tisch wieder, der Zufall wollte es, daß wir zwei, drei Sätze wechselten, so kamen wir ins Gespräch. Von da an trafen wir uns alle Tage, zum Mittag- und zum Abendessen. Bisweilen verließen wir das Restaurant gemeinsam nach dem Abendessen, gingen ein wenig spazieren und plauderten.

Vicente Guedes ertrug dieses nichtige Leben mit meisterhaftem Gleichmut. Seine Geisteshaltung gründete sich auf einen Stoizismus der Schwachen.

Die Beschaffenheit seiner Psyche verdammte ihn zu Sehnsüchten aller Art und die seiner Bestimmung, von all diesen Sehnsüchten abzulassen. Keine Menschenseele hat mich je so erstaunt. Obgleich alles andere als ein Asket, hatte dieser Mann allem abgeschworen, wozu seine Natur ihn bestimmt hatte. Obgleich zur Zielstrebigkeit geboren, gewann er zunehmend Geschmack an der völligen Ziellosigkeit.

… dieses sanfte Buch.

Ist alles, was bleiben wird von einer der subtilsten passiven Seelen, von einem der haltlosesten reinen Träumer, den diese Welt je gekannt hat. Nie, glaube ich, hat eine nach außen hin menschliche Kreatur das Bewußtsein von sich selbst vielschichtiger gelebt. Dandy im Geiste, hat er die Kunst des Träumens durch den Zufall seiner Existenz geführt.

Dieses Buch ist die Biographie von jemandem, der nie ein Leben hatte …[91]  

Niemand weiß, wer Vicente Guedes war, noch was er tat oder […]

Dieses Buch ist nicht von ihm, dieses Buch ist er. Aber vergessen wir nie, was sich hinter all dem hier Gesagten geheimnisvoll im Schatten schlängelt.

Für Vicente Guedes war sich seiner selbst bewußt zu sein eine Kunst und eine Moral, Träumen eine Religion.

Guedes war zweifelsohne Schöpfer eines inneren Adels, jener Seelenhaltung, die der Körperhaltung eines vollendeten Aristokraten am ehesten entspricht.

Die Not eines Mannes, der auf der Terrasse seines prächtigen Landgutes Lebensüberdruß empfindet, ist eine Sache; eine andere hingegen die Not von jemandem wie mir, der die Landschaft vom vierten Stock aus in einem Zimmer der Lissabonner Unterstadt betrachtet und nicht vergessen kann, daß er Hilfsbuchhalter ist.

»Tout notaire a rêvé des sultanes« …[92]  

Wann immer ich auf einem offiziellen Dokument meinen Beruf angeben muß und, ohne daß sich jemand verwundert, Kaufmännischer Angestellter schreibe, schmunzele ich innerlich über die Ironie des unverdient Lächerlichen.

Ich weiß nicht, wie er dorthin gekommen ist, so aber steht mein Name im Handelsregister.

Der Eintrag lautet:

Guedes (Vicente), Kaufmännischer Angestellter,

Rua dos Retroseiros[93]  , 17 – 4°.

Handelsregister von Portugal

II . Zwei Briefe

Pessoa trug sich mit der Absicht, Sätze und Gedanken aus den beiden folgenden Briefen in das Buch der Unruhe mit aufzunehmen.

Auszüge aus einem Brief Pessoas an seine Mutter[94]  .

5. Juni 1914

Ich bin bei guter Gesundheit, und meine Stimmung ist seltsamerweise weniger schlecht. Demungeachtet quält mich eine unbestimmte Unruhe, sagen wir, eine Art intellektueller Juckreiz, als bekäme meine Seele Windpocken. Ich kann Ihnen nur in dieser absurden Sprache beschreiben, was ich fühle. All dies hat jedoch nicht wirklich annähernd mit jenen traurigen Gemütsverfassungen zu tun, von denen ich Ihnen bisweilen berichte und in denen die Traurigkeit bezeichnenderweise unbegründet ist. Meine gegenwärtige Gemütsverfassung aber hat einen Grund. Alles um mich herum entfernt sich und bricht auseinander. Ich gebrauche diese beiden Verben nicht etwa in düsterer Absicht. Ich möchte damit nur sagen, daß die Menschen, mit denen ich zu tun habe, Veränderungen erleben oder erleben werden, das Ende eines Lebensabschnittes, und daß all dies bei mir – wie bei einem alten Mann, der die Gefährten seiner Kindheit um sich herum sterben sieht und seine Zeit gekommen fühlt – auf ich weiß nicht welch geheimnisvolle Weise den Eindruck entstehen läßt, daß sich auch mein Leben verändern muß und wird. Ich glaube wohlgemerkt nicht, daß dies eine Veränderung zum Schlechten sein wird, im Gegenteil. Aber es ist eine Veränderung, und jede Veränderung, jeder Wechsel von einer Sache zur anderen, ist für mich ein partieller Tod; etwas von uns stirbt, und die Trauer über das, was stirbt und vergeht, muß unsere Seele unweigerlich streifen.