Ich weiß nicht, ob es nur mir so ergeht oder allen, die sich durch die Zivilisation wie neu geboren fühlen. Doch scheint mir, daß für mich oder alle, die so fühlen wie ich, das Künstliche zum Natürlichen geworden und das Natürliche jetzt etwas Fremdes ist. Oder besser gesagt: Nicht das Künstliche ist zum Natürlichen geworden, sondern das Natürliche zu etwas Anderem. Ich kann auf Fahrzeuge verzichten und verabscheue sie, ich kann auf Produkte der Technik – Telefon und Telegraph –, die das Leben erleichtern, verzichten und verabscheue sie, wie auch auf die Subprodukte der Phantasie – Grammophon und Rundfunkempfänger –, die denen, die sich damit vergnügen, ein vergnügliches Leben bereiten.
Nichts davon reizt mich, nichts davon wünsche ich mir. Aber ich liebe den Tejo, weil eine große Stadt an seinem Ufer liegt. Ich genieße den Himmel, weil ich ihn von dem vierten Stockwerk einer Straße der Unterstadt aus sehe. Nichts können Landleben oder Natur mir geben, das der unebenmäßigen Erhabenheit der stillen Stadt im Mondlicht, von Graça oder São Pedro de Alcântara[12] aus gesehen, gleichkäme. Und kein Blumenstrauß hat für mich je die farbige Vielfalt Lissabons im Sonnenlicht.
Die Schönheit eines nackten Körpers wissen nur Kulturen zu würdigen, in denen man Kleider trägt. Scham wirkt auf die Sinnlichkeit wie ein Widerstand auf die Energie.
Die Künstlichkeit verhilft zum Genuß der Natürlichkeit. Was ich genossen habe an diesen weiten Gefilden, habe ich genossen, weil ich nicht hier lebe. Die Freiheit spürt nicht, wer nie unter Zwang gelebt hat.
Die Zivilisation erzieht uns für die Natur. Das Künstliche ist der Weg zur Würdigung des Natürlichen.
Doch dürfen wir das Künstliche nie als das Natürliche ansehen.
In der Harmonie zwischen dem Natürlichen und dem Künstlichen besteht die Natürlichkeit der höhergearteten menschlichen Seele.
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Der schwarze Himmel tief im Süden des Tejo stand in finsterem Kontrast zu den lebhaft weißen Schwingen der rastlos umherfliegenden Möwen. Der Tag jedoch sah nicht mehr nach Gewitter aus. Die gesamte Masse des drohenden Regens war auf die andere Flußseite abgezogen, und die Unterstadt, noch von dem wenigen Regen feucht, lächelte vom Boden bis zum Himmel, der im Norden noch etwas bläßlich zu bläuen begann. Die Frühlingsfrische strahlte leichte Kühle aus.
In einer leeren, unwägbaren Stunde wie dieser gefällt es mir, mein Denken freiwillig zu einer Gedankenkette zu führen, die nichts ist, aber in ihrer nichtigen Klarheit etwas von der einsamen Kühle des heller gewordenen Tages zurückbehält: den schwarzen Hintergrund in der Ferne und gewisse Intuitionen, die im Gegensatz dazu wie Möwen das Geheimnis aller Dinge in diesem tiefen Schwarz heraufbeschwören.
Auf einmal jedoch, entgegen meiner inneren literarischen Absicht, ruft der schwarze Hintergrund des Himmels im Süden dank einer wahren oder auch falschen Erinnerung einen anderen Himmel in mir wach, den ich vielleicht in einem anderen Leben erblickt habe, hoch im Norden, mit einem kleineren Fluß, mit traurigem Schilf und ohne jede Stadt. Ohne daß ich wüßte wie, treibt mir eine Landschaft für Wildenten durch die Phantasie, und mit der Klarheit eines sonderbaren Traumes fühle ich mich dieser, imaginären Landschaft ganz nahe.
Schilfgesäumte Flüsse, Gelände für Jäger und Ängste, unregelmäßige Ufer führen wie schmutzige Miniaturlandzungen in ein gelblich bleifarbenes Wasser und wieder zurück in schlammige Buchten für Boote, klein wie Spielzeuge, hinein in Flüsse, deren Wasser an der Oberfläche über dem Schlick zwischen grünschwarzen Binsen glitzert und wo kein Gehen möglich ist.
Die Trostlosigkeit rührt von einem leblos grauen Himmel; hier und dort zerfetzen ihn Wolken, noch schwärzer als die Farbe des Himmels. Ich spüre keinen Wind, doch ist er da, und die gegenüberliegende Flußseite wirkt wie eine lange Insel, hinter der man – großer, verlassener Tejo! – das wahre andere Ufer konturlos in der Ferne erblickt.
Niemand gelangt dorthin oder wird je dorthin gelangen. Selbst wenn ich im Widerspruch zu Zeit und Raum der Welt in diese Landschaft entfliehen könnte, gelangte nie jemand dorthin. Und ich würde vergeblich auf etwas warten, vom dem ich nicht wüßte, was es ist, und am Ende käme nur langsam die Nacht, und der gesamte Raum nähme allmählich die Farbe der schwärzesten Wolken an, die nach und nach in der abgeschafften Himmelsmasse versänken.
Und plötzlich spüre ich hier die Kälte von dort. Sie berührt meinen Körper, steigt auf aus meinen Knochen. Ich atme tief und erwache. Der Mann, der meinen Weg unter den Arkaden neben der Börse kreuzt, schaut mich mit dem Mißtrauen eines Menschen an, der nichts zu erklären vermag. Der schwarze Himmel zog sich zusammen und senkte sich noch tiefer über das südliche Ufer.
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Wind kam auf … Zuerst klang es wie die Stimme eines Vakuums … Ein Pfeifen des Raums durch ein Loch, ein Riß in der Stille der Luft. Dann erhob sich ein Schluchzen, ein Schluchzen aus der Tiefe der Welt, die Wahnehmung, daß Fensterscheiben vibrierten und daß es wirklich Wind war. Dann wurde es lauter, dumpfes Geheul, ein Weinen, das kein Weinen war angesichts der immer tieferen Nacht, ein Knirschen der Dinge, ein Fallen kleinster Teile, ein Atom vom Ende der Welt.
Dann wieder schien es […]
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Als das Christentum wie eine Sturmnacht, auf die der Tag folgt, über die Seelen hinwegfegte, spürte man die Zerstörung, die es unsichtbar anrichtete, ihr ganzes Ausmaß aber sah man erst, als es bereits vorüber war. Einige meinten, der eigentliche Schaden sei durch sein Verschwinden entstanden; doch den Schaden hat es nur offenbart und nicht verursacht.
Und so blieb in dieser Welt der Seelen der Schaden sichtbar und das Unglück offensichtlich, und keine Nacht deckte sie zu mit falscher Liebe. Die Seelen sahen sich, wie sie waren.
Daraufhin befiel die noch jungen Seelen jene Romantik genannte Krankheit, jenes Christentum ohne Illusionen, ohne Mythen, nackt und im Wesen dürr und krank.
In all ihrem Elend verwechselt die Romantik das, was wir benötigen, mit dem, was wir uns wünschen. Wir alle benötigen Dinge, die für das Leben, seine Erhaltung und seinen Fortbestand unerläßlich sind; wir alle wünschen uns ein vollkommeneres Leben, das Glück schlechthin, die Erfüllung unserer Träume und […]
Es ist menschlich zu wollen, was wir benötigen, und ebenso menschlich zu wünschen, was wir nicht benötigen, was uns aber wünschenswert erscheint. Krankhaft hingegen ist, wenn wir uns, was wir benötigen und was uns wünschenswert erscheint, gleich inständig wünschen und an der mangelnden Vollkommenheit leiden, als mangele es uns an Brot. Das genau ist das Elend der Romantik: sie will nach dem Mond greifen – als ließe er sich herunterholen.
»Man kann einen Kuchen nicht essen und gleichzeitig bewahren.«
Ob in den niederen Sphären der Politik oder im Innersten unserer Seele – überall das gleiche Elend.
Der Heide in der realen Welt wußte nichts von diesem krankhaften Wesen der Dinge und seiner selbst. Da er Mensch war, wünschte er sich ebenfalls das Unmögliche; doch er forderte es nicht. Seine Religion war […], und nur in den Herzkammern des Mysteriums und nur an die Initiierten, fern dem gemeinen Volk und den […], wurde das Wissen um die transzendenten Dinge der Religionen weitergegeben, sie füllen die Seele mit der Leere der Welt.
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Die imponierende individualistische Persönlichkeit, als die sich die Romantiker darstellten, habe ich oftmals im Traum nachzuleben versucht, und ebenso oft, wie ich dies versucht habe, mußte ich laut herauslachen über meinen Einfall, sie nachleben zu wollen. Alle Durchschnittsmenschen träumen davon, eine überragende Persönlichkeit, ein homme fatal zu werden, und die Romantik verkehrt nur unser tägliches Herrschertum in sein Gegenteil. Fast alle Menschen träumen im tiefsten Inneren von einem großen eigenen Imperialismus, von der Unterwerfung aller Männer, der Hingabe aller Frauen, der Anbetung aller Völker und – im Falle der Edelsten – aller Epochen … Wenige sind wie ich an den Traum gewöhnt und daher geistesklar genug, um über die ästhetische Möglichkeit, sich so zu träumen, lachen zu können.