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Morgen fährt mein bester und engster Freund[95]   nach Paris – nicht vorübergehend, sondern auf Dauer. Tante Anica (siehe beiliegenden Brief) wird wahrscheinlich demnächst mit ihrer bis dahin verheirateten Tochter in die Schweiz aufbrechen. Ein anderer mir nahestehender Freund wird für längere Zeit nach Galicien gehen. Ein weiterer wiederum nach Porto übersiedeln, er ist nach dem ersterwähnten Freund der mir naheste. So organisiert (oder desorganisiert) sich in meiner menschlichen Umgebung alles in einer Weise, die mich womöglich in die Isolation treibt oder aber mir einen neuen Weg aufzeigt, den ich noch nicht sehe. Selbst der Umstand, daß ich demnächst ein Buch veröffentliche, wird mein Leben verändern. Ich verliere etwas: das Unveröffentlichtsein. Und da jede Veränderung schlecht ist, bedeutet selbst eine Veränderung zum Guten stets eine Veränderung zum Schlechten. Selbst der Verlust einer negativen Eigenschaft wie eines Fehlers, einer Schwäche oder Unzulänglichkeit bleibt doch immer ein Verlust. Und nun, Mama, stellen Sie sich die schmerzlichen Empfindungen eines Wesens vor, das Tag für Tag so fühlt!

Was wird mit mir in zehn Jahren sein oder selbst in fünf? Meine Freunde sagen, aus mir werde einer der größten zeitgenössischen Dichter, sie haben dabei vor Augen, was ich bereits geschrieben habe, und nicht, was ich schreiben könnte (andernfalls zitierte ich sie nicht …). Aber weiß ich denn, was dies, selbst wenn es einträte, bedeutet? Weiß ich denn, wonach es schmeckt? Vielleicht schmeckt Ruhm nach Tod und Nichtigkeit und riecht Triumph nach Fäulnis.

Brief an Mário de Sá-Carneiro

14. März 1916

Ich schreibe Ihnen heute, weil mein Gefühl nicht anders kann – ich habe das schmerzliche Verlangen, mit Ihnen zu sprechen. Mit anderen Worten, ich habe Ihnen nichts Besonderes zu sagen. Bis auf dies: Ich befinde mich heute auf dem Grund einer grundlosen Depression. Das Absurde dieses Satzes spricht für mich.

Dies ist einer jener Tage, an denen ich nie eine Zukunft hatte. Ich sehe nur eine statische Gegenwart, umgeben von einer Mauer aus Angst. Die andere Seite des Flusses ist, solange sie die andere ist, nie diese Seite; darin liegt die eigentliche Ursache für mein ganzes Leid. Viele Schiffe steuern viele Häfen an, aber keines einen Hafen, in dem das Leben nicht schmerzt, oder ein Kai, an dem man vergessen könnte. All dies hat sich vor langer Zeit ereignet, doch ist mein Kummer noch älter.

An Seelentagen wie heute spüre ich deutlich, mit der ganzen bewußten Wahrnehmung meines Körpers, wie sehr ich das traurige, vom Leben geschlagene Kind bin. Man hat mich in eine Ecke gestellt, von wo ich die anderen spielen höre. Ich fühle in meinen Händen das zerbrochene Spielzeug, das sie mir gaben, eine blecherne Ironie. Heute, am 14. März, um zehn nach neun Uhr abends, ist das der Reiz, der Wert meines Lebens.

Im Garten, den ich durch die schweigenden Fenster meiner Gefangenschaft sehe, hat man alle Schaukeln hoch in die Äste geworfen, wo sie jetzt zusammengerollt hängen, und nicht einmal mehr meine Vorstellung, ich sei alldem entflohen, kann in meiner Phantasie schaukeln, um diesen Augenblick zu vergessen.

Dies ist mehr oder minder, und ohne Stil, meine derzeitige seelische Verfassung. Wie der Wächterin im Marinheiro[96]   brennen mir die Augen davon, daß ich ans Weinen gedacht habe. Das Leben schmerzt mich zusehends, schluckweise, in Intervallen. All dies steht winzig geschrieben in einem Buch, dessen Broschur sich langsam löst.

Schriebe ich nicht gerade an Sie, müßte ich Ihnen schwören, daß dieser Brief aufrichtig ist und daß die hysterischen Gedankenverbindungen darin spontanen Gefühlen entsprungen sind. Aber Sie werden genau spüren, daß diese nicht aufführbare Tragödie so wirklich ist wie ein Kleiderbügel oder eine Tasse – voller Hier und Jetzt – und in meiner Seele geschieht wie das Grün in den Blättern.

Aus diesem Grunde regierte der Prinz nie. Dieser Satz ist völlig absurd. Aber in genau diesem Augenblick fühle ich, daß ich bei absurden Sätzen am liebsten weinte. Sofern ich diesen Brief heute nicht einwerfe, könnte es sein, daß ich mir morgen, beim nochmaligen Durchlesen, die Zeit nehme, ihn mit der Maschine abzuschreiben, um einige seiner Sätze und Grimassen in das Buch der Unruhe zu übernehmen. Aber das wird weder die Aufrichtigkeit, mit dem ich ihn schreibe, im geringsten schmälern noch die schmerzliche Unvermeidbarkeit, mit der ich ihn fühle.

Das ist alles, was ich Ihnen berichten kann. Dann wäre da auch noch der Kriegszustand mit Deutschland, aber der Schmerz hat bereits zuvor Leid verursacht. Auf der anderen Seite des Lebens muß das die Bildunterschrift unter irgendeine Karikatur sein.

Das ist nicht wirklich Wahnsinn, aber der Wahnsinn muß sich ganz dem hingeben, an dem man leidet, muß ein geheimes Vergnügen an den Erschütterungen der Seele empfinden, nicht viel anderes als die meinen hier.

Welche Farbe wohl Fühlen hat?

Seien Sie tausendmal umarmt von Ihrem getreuen

Fernando Pessôa

III . Andere, nicht in das Buch der Unruhe aufgenommene Textfragmente

Der magere Mann lächelte linkisch. Er betrachtete mich mißtrauisch, aber ohne jede Feindseligkeit. Dann lächelte er mir erneut zu, diesmal war sein Lächeln traurig. Er sah wieder auf seinen Teller. Er fuhr fort zu essen, schweigend und gedankenverloren.

Weitere »Gedanken«

Weihnachten. Humanismus. Die weihnachtliche »Wirklichkeit« ist subjektiv. Ja, in meinem Wesen. Die Rührung ist vergangen wie sie gekommen ist. Für einen Augenblick aber habe ich die Hoffnungen und Emotionen unzähliger Generationen geteilt, die toten Vorstellungen einer toten Geschlechterreihe von Mystikern. Weihnachten in mir!

Soziologie – die Nutzlosigkeit politischer Theorien und Praktiken.

Grausamkeit des Schmerzes – sich des Leidens erfreuen, weil wir uns unserer eigenen, mit dem Wesen des Schmerzes verbundenen Persönlichkeit erfreuen. Die letzte ernsthafte Zuflucht für allen Hunger nach Leben und alles Dürsten nach Genuß; […]

Ich bin neugierig auf alle, begierig auf alles, auf die Idee aller Ideen. Wie der Verlust von […] lastet auf mir die Vorstellung, daß man nicht alles sehen, nicht alles lesen, nicht alles denken kann …

Und doch ist mein Blick nie aufmerksam, noch messe ich meiner Lektüre Bedeutung bei oder führe meine Gedanken gar weiter. Ich bin in allem ein ausgemachter, unverbesserlicher Dilettant.

Meine Seele ist zu schwach, um auch nur die Kraft für ihre eigene Begeisterung aufzubringen. Ich bin aus Ruinen des Unfertigen gemacht, und mein Sein ließe sich als eine Landschaft des Verzichts beschreiben.