Выбрать главу

Ich habe nichts gegen Blumen in abgezirkelten Beeten. Wohl aber gegen den öffentlichen Gebrauch von Blumen. Befänden sich die Blumenbeete in geschlossenen Parks, übergrünten die Bäume feudale Refugien, wären die Bänke leer, gäbe es etwas, womit ich mich bei der zweckfreien Betrachtung von Parks trösten könnte. Doch hier in der Stadt wirken die Parkanlagen – zurechtgestutzt und zweckbetont – wie Käfige auf mich, in denen der bunte Wildwuchs von Bäumen und Blumen gerade so viel Raum hat, um ihn nicht zu haben, ausreichend Platz, um ihm nicht zu entkommen, und eine Schönheit ohne jene Lebendigkeit, wie sie Schönheit eigen ist.

Aber es gibt Tage, an denen diese Landschaft zu mir gehört und ich in ihr bin wie ein Schauspieler in einer Tragikomödie. An diesen Tagen gaukle ich mir etwas vor, doch bin ich zumindest in gewisser Weise glücklicher. Bin ich abgelenkt, bilde ich mir ein, ich hätte wirklich ein Haus, ein Heim, in das ich zurückkehren könnte. Wenn ich vergesse, werde ich ein normaler Mensch, einem bestimmten Ziel zugedacht, bürste mir einen anderen Anzug aus und lese die Zeitung von vorn bis hinten.

Aber die Illusion hält nicht lange, teils, weil sie so beschaffen ist, teils, weil es Abend wird. Und die Farbe der Blumen, der Schatten der Bäume, die Geometrie von Straßen und Beeten – alles verblaßt und schrumpft. Und über meinem Irrtum und meinem Menschsein erscheint plötzlich, als sei das Tageslicht ein Theatervorhang, der sie vor mir verbarg, die große Sternenkulisse. Dann vergessen meine Augen das amorphe Parkett, und aufgeregt wie ein Kind im Zirkus erwarte ich die ersten Darsteller.

Ich bin befreit und bin verloren.

Ich fühle. Fieberfrost. Bin ich.

68

Müde, aller Illusionen müde und all dessen, was sie mit sich bringen: ihren eigenen Verlust, die Nutzlosigkeit, sie zu haben, die Vormüdigkeit, sie haben zu müssen, um sie zu verlieren, der Kummer, sie gehabt zu haben, die intellektuelle Scham, sie gehabt zu haben, wohl wissend, daß sie ein solches Ende nehmen würden.

Sich der Unbewußtheit des Lebens bewußt sein ist der älteste Tribut an die Intelligenz. Es gibt unbewußte Formen der Intelligenz – Geistesblitze, Gedankenströme, Mysterien und Philosophien –, die demselben Automatismus gehorchen wie die Reflexe unseres Körpers, wie die Funktionen, die Leber und Nieren mit ihren Sekreten bewirken.

69

Es regnet stark, stärker, immer stärker … Als würde in dem Dunkel draußen gleich etwas einstürzen …

Die gesamte unregelmäßige, hügelige Anhäufung der Stadt erscheint mir heute wie eine Ebene, eine Regenebene. Wohin sich mein Blick auch erstreckt, alles ist regenfarben, ein bleiches Schwarz.

Meine Empfindungen sind seltsam, allesamt kalt. Im Augenblick kommt es mir vor, als sei die eigentliche Landschaft Nebel, als seien die Häuser der Nebel, der sie verhüllt.

Bei dem Gedanken an das, was ich sein werde, wenn ich nicht mehr bin, befällt mich eine Art Vorneurose wie eine körperliche und seelische Starre. Wie eine Erinnerung an meinen künftigen Tod, die mich innerlich erkalten läßt. Im Nebel meiner Vorahnung fühle ich mich als tote Materie – gefallen im Regen, beweint vom Wind. Und die Kälte dessen, was ich nicht spüren werde, nagt an meinem Herzen, jetzt, so wie es ist.

70

Auch wenn ich weiter keine Fähigkeit besitze, so doch die Fähigkeit zur ständigen Erneuerung der befreiten Sinneswahrnehmung.

Als ich heute die Rua Nova do Almada hinunterging, fiel mir mit einem Mal der Rücken eines Mannes auf. Der gewöhnliche Rücken eines gewöhnlichen Mannes, das Jackett eines bescheidenen Anzugs eines zufälligen Passanten vor mir. Er trug eine alte Aktentasche unter dem linken Arm und setzte im Rhythmus seines Gangs einen eingerollten Regenschirm, den er am Griff in der rechten Hand trug, auf den Boden auf.

Ich empfand plötzlich so etwas wie Zärtlichkeit für diesen Menschen. Eine Zärtlichkeit, wie man sie für die allgemeine menschliche Mittelmäßigkeit empfindet, für das Banal-Alltägliche des Familienoberhauptes, das zur Arbeit geht, für sein schlichtes und fröhliches Heim, für die heiteren und traurigen Vergnügen, aus denen sein Leben notgedrungen besteht, für die Unschuld eines Lebens ohne Analyse, für die tierische Natürlichkeit dieses bekleideten Rückens.

Ich schaute auf den Rücken des Mannes wie auf ein Fenster, durch das hindurch ich diese Gedanken sah.

Ich empfand das gleiche wie beim Anblick eines Schlafenden. Wer schläft, wird wieder zum Kind. Vielleicht, weil man im Schlaf nichts Böses tun kann und das Leben nicht wahrnimmt, ist der größte Verbrecher, der verschlossenste Egoist dank eines natürlichen Zaubers heilig, solange er schläft. Zwischen dem Mord an einem Schlafenden und dem Mord an einem Kind besteht für mich kein merklicher Unterschied.

Nun, der Rücken dieses Mannes schläft. Seine ganze Person, die vor mir mit Schritten wie den meinen geht, schläft. Er geht unbewußt. Er lebt unbewußt. Er schläft, weil wir alle schlafen. Das ganze Leben ist ein Traum. Niemand weiß, was er tut, niemand weiß, was er will, niemand weiß, was er weiß. Wir schlafen das Leben, ewige Kinder des Schicksals. Deshalb verspüre ich, wenn ich mit diesem Empfinden denke, eine gestaltlos unermeßliche Zärtlichkeit für die ganze kindliche Menschheit, für das ganze schlafende Leben in der Gesellschaft, für alle, für alles.

Eine unmittelbare Verbundenheit mit Menschen ohne Schlüsse und Absichten überkommt mich in diesem Augenblick. Ich empfinde eine Zärtlichkeit, als sähe ich sie mit den Augen eines Gottes. Ich sehe sie alle mit dem Mitgefühl des einzig Bewußten, diese armen Teufel, die Menschen, diesen armen Teufel, die Menschheit. Was hat all das hier zu suchen?

Alle Regungen und Absichten des Lebens, vom einfachen Leben der Lungen bis zum Bau von Städten und der Grenzziehung von Imperien, betrachte ich als unfreiwillige Träume oder Ruhepausen zwischen zwei Wirklichkeiten, zwischen zwei Tagen des Absoluten. Und wie ein abstraktes mütterliches Wesen beuge ich mich abends über die guten wie die bösen Kinder, vereint im Schlaf und die meinen. Ich bin gerührt und öffne mich weit wie etwas Unendliches.

Ich wende meinen Blick vom Rücken des Mannes vor mir und lasse ihn über all die anderen gleiten, die auf dieser Straße gehen; umarme alle hellwach mit der gleichen absurden, kalten Zärtlichkeit, ausgehend vom Rücken jenes Nichtsahnenden, dem ich folge. Alles ist ein und dasselbe: er, all die schnatternden Mädchen auf dem Weg zur Arbeit, die lachenden jungen Männer auf dem Weg ins Büro, die vollbusigen Dienstmädchen mit ihren schweren Einkaufskörben auf dem Weg nach Hause, die ersten Lastenträger – alles ein und dieselbe Unbewußtheit, die sich vielfältig äußert in unterschiedlichen Gesichtern und Körpern, wie Marionetten, an Fäden gezogen, die zu den Fingern einer unsichtbaren Hand führen. Sie gehen ihren Weg und legen dabei einer wie der andere Verhalten zutage, die Bewußtsein ausdrücken, und haben von nichts Bewußtsein, da ihnen nicht bewußt ist, daß sie ein Bewußtsein haben. Die einen intelligent, die anderen dumm, sind sie alle gleichermaßen dumm. Die einen alt, die anderen jung, gehören sie alle der gleichen Altersgruppe an. Die einen Männer, die anderen Frauen, gehören sie alle zum gleichen, nicht existenten Geschlecht.

71

1341930