Jene mangelnde Übereinstimmung mit anderen, die ich immer wieder so stark empfinde, erklärt sich wohl damit, daß die meisten mit ihrem Gefühl denken, während ich mit meinem Denken fühle.
Für den Normalmenschen heißt fühlen leben, und denken heißt, zu leben verstehen. Für mich heißt denken leben, und das Fühlen ist nur die Nahrung für mein Denken.
Erstaunlich ist, daß meine überaus geringe Begeisterungsfähigkeit eher Menschen mit einem mir gänzlich entgegengesetzten Temperament zu erregen vermögen als solche, die mir geistesverwandt sind. In der Literatur bewundere ich vor allem die Klassiker, und ihnen bin ich am wenigsten ähnlich. Wenn ich zwischen Chateaubriand und Vieira als einziger Lektüre wählen müßte, entschiede ich mich ohne Zögern für Vieira.
Je verschiedener jemand mir ist, desto wirklicher erscheint er mir, da er weniger von meiner Subjektivität abhängt. Und aus ebendiesem Grund gilt mein aufmerksames, beständiges Studium dieser gemeinen Menschheit, die ich ablehne und von der ich mich distanziere. Ich liebe sie, da ich sie hasse. Ich betrachte sie gern, da ich sie überaus ungern fühle. Die als Gemälde so wunderbare Landschaft erweist sich nur selten als bequemes Bett.
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Amiel[15] sagte, eine Landschaft sei ein seelischer Zustand, aber dieser Satz ist wie das dürftige Glück eines mittelmäßigen Träumers. Sobald die Landschaft Landschaft ist, hört sie auf, ein seelischer Zustand zu sein. Objektivieren heißt erschaffen, niemand sagt, ein fertiges Gedicht sei ein Zustand, in welchem man daran denke, es zu verfertigen. Sehen heißt vielleicht träumen, wenn wir es aber sehen statt träumen nennen, so deshalb, weil wir zwischen träumen und sehen unterscheiden.
Wozu nützen im übrigen diese Spekulationen verbaler Psychologie? Unabhängig von mir wächst das Gras, regnet es auf das wachsende Gras, und die Sonne vergoldet die Wiese, die gewachsen ist oder noch wachsen wird; die Berge bestehen seit undenklichen Zeiten, und der Wind weht auf die gleiche Weise, wie ihn Homer, auch wenn es ihn nie gab, vernommen hat. Richtiger wäre zu sagen, ein seelischer Zustand sei eine Landschaft; dieser Satz hätte den Vorteil, nicht die Lüge einer Theorie zu enthalten, sondern nur die Wahrheit einer Metapher.
Diese zufälligen Worte wurden mir von der Stadt diktiert, wie sie sich dem Betrachter vom hochgelegenen São Pedro de Alcântara aus im universellen Licht der Sonne darbietet. Jedesmal wenn ich eine solch weite Fläche betrachte und von den 1,70 m Körpergröße und den 61 kg Gewicht absehe, aus denen meine Physis besteht, habe ich ein ausgeprägt metaphysisches Lächeln für all jene übrig, die träumen, daß der Traum Traum sei, und ich liebe die Wahrheit der absoluten Außenwelt mit der edlen Kraft des Verstandes.
Der Tejo im Hintergrund ist ein blauer See, und die Berge am anderen Flußufer sind die einer abgeplatteten Schweiz. Ein kleines Schiff – ein schwarzer Frachtdampfer – verläßt bei Poço do Bispo die Docks Richtung Flußmündung, die ich nicht sehen kann. Mögen mir die Götter alle bis zu der Stunde, in der meine Physis vergeht, die klare, sonnenhafte Sicht der äußeren Wirklichkeit bewahren, den Instinkt für meine Unwichtigkeit und das Behagen, klein zu sein und ans Glücklichsein denken zu können. (1932 in der Zeitschrift Revuloção erschienen.)
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14. 4. 1930
Erreichen wir die Höhen natürlicher Berge, empfinden, wir dies als Privileg. Wir ragen höher auf als der Gipfel, auf dem wir stehen. Das Höchste der Natur liegt, zumindest an diesem Ort, unter den Sohlen unserer Füße. Stehen wir dort, sind wir Könige der sichtbaren Welt. Um uns her ist alles niedriger: Das Leben ist ein abfallender Hang, eine ruhende Ebene zu Füßen der Erhebung und des Gipfels, zu dem wir geworden sind.
Alles an uns ist Zufall und List, die Größe, die wir erreicht haben, haben wir nicht; wir sind in der Höhe nicht größer als wir groß sind. Selbst das, was wir mit Füßen treten, erhöht uns; und wenn wir hoch stehen, dann, weil wir höher stehen.
Man atmet besser, wenn man reich ist; man ist freier, wenn man berühmt ist; selbst ein Adelstitel ist ein kleiner Berg. Alles ist Trug, aber nicht einmal der Trug ist unser Werk. Entweder wir besteigen den Berg, oder man bringt uns zum Berg, oder aber wir kommen im Haus auf dem Berg zur Welt.
Wirklich groß hingegen ist, wer zu der Einsicht gelangt, daß die unterschiedliche Entfernung vom Tal zum Himmel oder vom Berg zum Himmel keinen Unterschied macht. Sollten die Fluten steigen, wären wir besser auf dem Berg. Doch sollte uns Gott wie Jupiter mit zuckenden Blitzen verfluchen oder wie Äolus mit entfesselten Winden, wären wir geschützter im Tal und am sichersten bäuchlings auf dem Boden.
Wahrhaft weise ist, wer die Kraft zur Höhe in den Muskeln hat und in seiner Einsicht den Aufstieg ablehnt. Mit seinem Blick besitzt er alle Berge, mit seiner Position alle Täler. Die auf den Gipfeln goldene Sonne wird für ihn noch goldener sein als für den, der ihr in der Höhe ausgesetzt ist; und das hohe Schloß im Wald ist schöner für den, der es vom Tal aus betrachtet, als für den, der es in den Sälen, die ihm zum Gefängnis werden, vergißt.
Mit diesen Gedanken tröste ich mich, da ich mich nicht mit dem Leben trösten kann. Und das Sinnbild verschmilzt mit der Wirklichkeit, wenn ich, mit Leib und Seele Flaneur in diesen Straßen der Unterstadt zum Tejo hin, die hellen Höhen Lissabons wie fremden Ruhm erstrahlen sehe, im vielfältigen Licht einer Sonne, die bereits nicht mehr untergeht.
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Gewitter
Zwischen den stillstehenden Wolken war das Blau des Himmels beschmutzt von einem durchscheinenden Weiß.
Hinten im Büro hielt der Dienstmann mit dem Verschnüren des ewigen Paketes inne …
»So ein Gewitter habe ich bisher nur einmal erlebt«, konstatierte er statistisch.
Eine kalte Stille. Als hätte man die Straßengeräusche mit einem Messer zerschnitten. Es war wie ein kosmisches Aussetzen der Atmung, ein allgemeines, langanhaltendes Unwohlsein. Das gesamte Universum stand still. Für Augenblicke, endlose Augenblicke. Stille schwärzte das Dunkel.
Plötzlich, lebendiger Stahl […]
Wie menschlich das metallische Bimmeln der Elektrischen! Wie fröhlich die Landschaft schlichten Regens auf der Straße, auferstanden aus dem Abgrund!
O Lissabon, du meine Heimstatt!
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Um die Wonne und den Schrecken der Geschwindigkeit zu empfinden, benötige ich weder schnelle Automobile noch schnelle Züge. Mir genügen eine Straßenbahn und das erstaunliche Abstraktionsvermögen, das ich besitze und pflege.
In einer fahrenden Straßenbahn erlaubt mir meine analytische Kapazität – stets vorhanden und allzeit abrufbar –, die Vorstellung, die ich von der Straßenbahn und von der Geschwindigkeit habe, zu trennen, ja, so gänzlich zu trennen, daß sie zu zwei verschiedenen Real-Dingen werden. Ist dies geschehen, fahre ich nicht mehr in der Straßenbahn, sondern in ihrer reinen Geschwindigkeit. Und sollte es mich, dessen müde geworden, nach einem Geschwindigkeitsrausch gelüsten, kann ich diese Idee in die reine Nachahmung von Geschwindigkeit übertragen und sie nach Belieben erhöhen oder verringern, ja, selbst über die schnellstmögliche Geschwindigkeit von Zügen hinaus vergrößern.
Mich wirklichen Gefahren auszusetzen macht mir angst, doch verstört mich weniger das übermäßige Angstgefühl als vielmehr die übermäßige Aufmerksamkeit für meine Empfindungen, sie behindert und entpersönlicht mich.