Ich gehe nie auf eine Gefahr zu. Ich habe Angst, der Gefahren überdrüssig zu werden.
Ein Sonnenuntergang ist ein intellektuelles Phänomen.
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Ich denke zuweilen (mit zwiespältigem) Vergnügen über die künftige Möglichkeit einer Geographie unseres Bewußtseins von uns selbst nach. Meines Erachtens wird der künftige Historiker eigener Empfindungen möglicherweise in der Lage sein, eine exakte Wissenschaft aus seinem Verhalten gegenüber seinem Bewußtsein von der eigenen Seele zu machen. Einstweilen stehen wir noch ganz am Anfang dieser schwierigen Kunst, die immer noch eine Kunst ist, eine Chemie der Empfindungen in ihrem vorerst noch alchimistischen Stadium. Der Wissenschaftler von übermorgen wird sein Innenleben einer überaus kritischen Betrachtung unterziehen. Er wird sich als das Präzisionsinstrument verstehen, mit dem er es analysiert. Ich wüßte nicht, was gegen den Stahl und die Bronze des Denkens als Präzisionsinstrument zur Selbstanalyse spräche. Ich meine damit Stahl und Bronze, die wirklich Stahl und Bronze sind, jedoch des Geistes. Vielleicht ist dies das einzig angemessene Material. Vielleicht wird man sich mit dieser Idee eines Präzisionsinstruments näher befassen und sie konkret veranschaulichen müssen, um eine strenge innere Analyse vornehmen zu können. Natürlich wird man auch den Geist auf eine Art wirklicher Materie reduzieren müssen, mit einer Art Raum, in dem er existieren kann. All dies hängt davon ab, inwieweit wir unsere inneren Empfindungen verfeinern und schärfen können, die, bis zum Äußersten ausgeschöpft, zweifellos in uns einen ebenso wirklichen Raum schaffen oder offenbaren wie den Raum, der von materiellen Dingen besetzt und als Ding unwirklich ist.
Ich weiß nicht einmal, ob dieser innere Raum nicht nur eine neue Dimension des anderen Raumes sein wird. Vielleicht gelangt die künftige wissenschaftliche Forschung zu der Erkenntnis, daß alle Wirklichkeiten die Dimensionen ein und desselben Raumes sind, der daher weder materiell noch geistig ist. In der einen Dimension leben wir als Körper, in der anderen als Seele. Und vielleicht gibt es noch weitere Dimensionen, in denen wir andere, ebenfalls wirkliche Facetten unserer selbst leben. Bisweilen mache ich mir einen Spaß daraus und lasse mich von der müßigen Überlegung gefangennehmen, wohin dieses Erforschen wohl führen könnte.
Vielleicht wird man entdecken, daß, was wir Gott nennen und was sich so offenkundig auf einer anderen Ebene jenseits aller Logik und räumlichen und zeitlichen Wirklichkeit befindet, eine uns eigene Existenzweise ist, eine Empfindung unserer selbst in einer anderen Dimension des Seins. Dies erscheint mir durchaus möglich. Vielleicht sind dann auch die Träume eine andere Dimension, in der wir leben, oder aber eine Überschneidung zweier Dimensionen; so wie ein Körper in der Höhe, in der Breite und in der Länge lebt, werden vielleicht auch unsere Träume im Ideal, im Ich und im Raum leben. Im Raum durch ihre Veranschaulichung, im Ideal durch ihre nicht materielle Substanz, im Ich durch jene innere Dimension, die sie als die unseren auszeichnet. Das Ich selbst, das Ich jedes einzelnen von uns, ist vielleicht eine göttliche Dimension. All das ist komplex und wird sich zweifellos zu gegebener Zeit weisen. Die heutigen Träumer sind vielleicht die großen Vorläufer einer künftigen Wissenschaft der Letztbegründungen. Selbstverständlich glaube ich nicht an eine künftige letztbegründende Wissenschaft. Doch darum geht es hier nicht.
Bisweilen betreibe ich Metaphysik dieser Art so konzentriert, gewissenhaft und ehrfürchtig wie jemand, der ernstlich arbeitet und Wissenschaft betreibt. Und es ist durchaus möglich, daß ich dies bereits tue. Wichtig ist, daß ich nicht allzu stolz darauf bin, da Stolz der strikten Unparteilichkeit der Wissenschaft zum Nachteil gereicht.
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Um mich zu unterhalten – denn nichts ist so unterhaltsam wie die Wissenschaft oder die Beschäftigung mit Dingen, die, ohne Zweck verfolgt, den Anschein von Wissenschaftlichkeit erwecken –, beginne ich oftmals, mein Seelenleben peinlich genau daraufhin zu untersuchen, wie andere es wahrnehmen könnten. Hin und wieder erweist sich der Zeitvertreib, den mir diese zwecklose Taktik beschert, als traurig, mitunter als schmerzhaft.
Ich versuche ganz allgemein, den Eindruck zu ergründen, den ich bei anderen hinterlasse, und ziehe daraus meine Schlüsse. Im allgemeinen bin ich jemand, dem andere zugeneigt sind, ja, sogar mit einem unbestimmten, sonderbaren Respekt. Lebhafte Zuneigung allerdings erwecke ich nicht. Niemand wird je von Herzen mein Freund sein. Deshalb können mich auch so viele respektieren.
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Manche Wahrnehmungen sind Schlaf, nehmen wie Nebel den Horizont unseres Geistes ein, hindern uns am Denken, hindern uns am Handeln, verhindern, daß wir auf klare Weise sind. Als hätten wir nicht geschlafen, lebt in uns etwas Traumhaftes fort, und eine Tagessonne erwärmt die stillstehende Oberfläche unserer Sinne. Es ist wie ein Rausch des Nicht-Seins, und der Wille gleicht einem Abfalleimer, im Vorbeigehen mit einem lässigen Tritt in den Garten entleert.
Wir schauen, sehen aber nicht. Die lange, von Menschentieren belebte Straße gleicht einer Art liegendem Schild mit beweglichen Buchstaben, die keinen Sinn ergeben. Die Häuser sind nur Häuser. Wir sind nicht länger imstande, dem, was wir sehen, einen Sinn beizumessen, doch sehen wir genau, was es ist, das ja.
Die Hammerschläge vor der Tür des Kistenmachers klingen seltsam nah; hallen in großen Abständen wider, nutzlose Echos. Die Fuhrwerke hören sich an wie an Tagen aufziehender Gewitter. Die Stimmen kommen aus der Luft und nicht aus Kehlen. Im Hintergrund, müde, der Fluß.
Nicht Überdruß verspürt man. Nicht Schmerz. Sondern den Wunsch, mit einer anderen Persönlichkeit einzuschlafen, mit einer Aufbesserung des Gehalts zu vergessen. Man spürt nichts, allenfalls einen Automatismus unten, der bewirkt, daß ein Paar Beine, die uns gehören, sich unfreiwillig in Bewegung setzen, auf dem Pflaster widerhallen, ein Paar Füße, die man in den Schuhen spürt. Vielleicht spürt man nicht einmal das. Um die Augen herum herrscht ein Druck im Kopf, als hätte man die Finger in den Ohren.
Als sei die Seele verschnupft. Und bei dem literarischen Bild des Krankseins wird der Wunsch geweckt, das Leben möge eine Zeit der Genesung sein, ohne ein Weitergehen; und der Gedanke an Genesung ruft die Erinnerung an Landhäuser in der Umgebung wach, an ihr Inneres, anheimelnd, fernab von Straßen und Räderlärm. Ja, man verspürt nichts. Man geht bewußt an der Tür vorüber, durch die man treten sollte, man geht wie im Schlaf und vermag dem Körper keine andere Richtung zu geben. Man geht an allem vorüber. Was ist mit dem Tamburin, Bär, der du stillstehst?
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Sacht, wie etwas Beginnendes, hing Ebbegeruch über dem Tejo und breitete sich schmutzig aus bis hin zur Unterstadt. Eine Übelkeit erregende Frische in der. kalten Reglosigkeit eines lauen Meeres. Ich spürte das Leben im Magen, und mein Geruchssinn verlagerte sich hinter die Augen. Hoch oben ruhten spärliche Wolken im Nichts, Spiralen in einem Aschgrau, das in falschem Weiß verblich. Ein feiger Himmel bedrohte die Atmosphäre wie ein unhörbarer Donner aus Luft.
Selbst im Flug der Möwen war Stillstand; sie schienen leichter als die Luft, es war, als hätte sie jemand dort zurückgelassen. Nichts war erstickend. Der Tag verlosch in unserer Unruhe; die Luft kühlte schubweise ab.
Meine armseligen Hoffnungen, geboren aus dem Leben, das ich gezwungen war zu leben! Sie sind wie diese Stunde und diese Luft, Nebel ohne Nebel, ein Sturm im Wasserglas. Ich möchte schreien, Schluß machen mit dieser Landschaft und diesem Grübeln. Doch selbst in meiner Absicht ist das Meer mit seinem Geruch, und die Ebbe in mir hat die modrige Schwärze draußen freigelegt, die ich nur sehe, weil ich sie rieche.