Welche Inkonsequenz, mir selbst genügen zu wollen! Welch sarkastisches Bewußtsein vermeintlicher Empfindungen! Welche Verstrickung der Seele mit den Empfindungen, der Gedanken mit der Luft und dem Fluß, nur um zu sagen, daß mich das Leben in meinem Geruchssinn und meinem Bewußtsein schmerzt, um es nicht sagen zu können wie mit dem einfachen, umfassenden Satz aus dem Buch Hiob: »Meine Seele ist meines Lebens überdrüssig!«
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Schmerzhaftes Intervall
Alles ermüdet mich, selbst was mich nicht ermüdet. Meine Freude ist so schmerzhaft wie mein Schmerz.
Könnte ich doch nur Kind sein, Papierschiffchen auf den Teich eines Landgutes setzen, mit einer bäuerlichen Weinlaube, deren Flechtwerk ein Schachbrettmuster aus Licht und grünen Schatten auf die dunklen Reflexe des seichten Wassers zeichnet.
Zwischen mir und dem Leben ist eine dünne Glasscheibe. So deutlich ich das Leben auch erkenne und verstehe, berühren kann ich es nicht.
Über meine Traurigkeit nachsinnen? Wozu, wenn doch Nachsinnen Anstrengung bedeutet? Und wer traurig ist, kann sich nicht anstrengen.
Ich verzichte nicht einmal auf die Gesten des tagtäglichen Lebens, auf die ich nur zu gerne verzichten würde. Verzichten ist anstrengend, und ich besitze nicht die Seelenstärke, mich anzustrengen.
Wie oft schmerzt es mich, nicht der Fahrer dieses Wagens, nicht der Führer jenes Zuges zu sein!, kein gewöhnlicher vermeintlich Anderer, dessen Leben, weil es nicht meines ist, mich Kraft meines Willens wonnig durchdringt, durchdringt [?] mit Anderssein!
Ich fände das Leben dann nicht so entsetzlich wie eine Sache. Die Vorstellung vom Leben als ein Ganzes würde mir nicht die Schultern meines Denkens niederdrücken.
Meine Träume sind eine so unsinnige Zuflucht wie ein Regenschirm, wenn es Blitze hagelt. Ich bin so träge, so bedauernswert, so arm an Gesten, so schwach im Handeln.
Sosehr ich auch in mich dringe, all meine Traumpfade führen zu Lichtungen der Angst.
Selbst ich, der ich viel träume, kenne Zeiten, in denen der Traum mich flieht. Dann erscheinen mir die Dinge deutlich. Der Nebel, in den ich mich hülle, löst sich. Und alle sichtbaren Ecken und Kanten verletzen das Fleisch meiner Seele. Alles wahrnehmbar Harte schmerzt mich, denn ich erkenne es als hart. Alles sichtbare Gewicht der Dinge lastet in meiner Seele.
Mein Leben ist, als würde man mich mit ihm schlagen.
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Auf der Straße knarren Fuhrwerke vorüber – vereinzelte Geräusche, langsam, im Einklang, scheint es, mit meiner Schläfrigkeit. Es ist Mittagszeit, aber ich bin im Büro geblieben. Der Tag ist lau und leicht verhangen. In seinen Stimmen finde ich, aus irgendeinem Grund, er mag mit meiner Schläfrigkeit zu tun haben, alles aus diesem Tag wieder.
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Ich weiß nicht, welch vage Liebkosung – je weniger sie liebkost, um so sanfter ist sie – mir die unstete Brise des Abends an Stirn und Verständnis fächelt. Ich weiß nur, daß mir der Überdruß, unter dem ich leide, für einen Augenblick besser paßt als ein Kleidungsstück, das nicht länger auf einer Wunde scheuert.
Armselige Sensibilität, die von einer leichten Luftbewegung abhängt, um – wenn auch nur vorübergehend – Ruhe zu finden! Aber so ist es mit der Sensibilität der Menschen, und ich glaube nicht, daß unvermittelt gewonnenes Geld oder ein unerwartet geschenktes Lächeln für die Menschen mehr Gewicht haben, sie bedeuten anderen das, was mir just in diesem Augenblick eine flüchtige Brise bedeutet.
Ich kann ans Schlafen denken. Kann vom Träumen träumen. Sehe die Objektivität aller Dinge klarer. Mache mir mein Gefühl für das Äußere des Lebens entspannter zunutze. Und das nur, weil sich die Brise kurz vor der Straßenecke drehte und mir jetzt heiter über die Haut streicht.
Alles, was wir lieben oder verlieren – Dinge, Wesen, Bedeutungen –, streift unsere Haut und gelangt so in unsere Seele, und dieses Geschehen ist in Gott nur die Brise, die mir eine vermeintliche Erleichterung bringt, einen günstigen Augenblick und die Kraft, alles mit Bravour verlieren zu können.
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Wirbel, Strudel in der fließenden Flüchtigkeit des Lebens! Auf dem großen Platz im Zentrum der Stadt strömt das Wasser der Menge in mäßiger Buntheit dahin, beschreibt Kurven, bildet Lachen, öffnet sich zu Bächen, vereinigt sich zu Flüssen. Meine Augen nehmen zerstreut wahr, und ich entwerfe in mir dieses aquatische Bild, das, besser als jedes andere, zumal ich dachte, es würde bald regnen, dieser unbestimmten Bewegungen entspricht.
Beim Schreiben dieses letzten Satzes, der für mich genau das besagt, was er beschreibt, dachte ich, es wäre nützlich, an das Ende meines Buches, sofern es veröffentlicht wird, unter die »Errata« einige »Non-Errata« zu setzen, nämlich: Der Satz »dieser unbestimmten Bewegungen« auf Seite soundso mit dem Pronomen und Adjektiv im Singular und dem Substantiv im Plural ist, wie er dasteht, richtig. Aber was hat das mit dem zu tun, was ich dachte? Nichts, und deshalb denke ich es nicht mehr.
Um die Mitten [sic] des Platzes knirschen und bimmeln die Elektrischen wie große, gelbe Streichholzschachteln auf Rädern, in die ein Kind ein abgebranntes Streichholz schräg als Mast gesteckt hat; sie setzen sich mit lautem metallischem Pfeifen in Bewegung. Rings um die Statue in der Mitte nehmen sich die Tauben wie schwarze Brosamen aus, wirbeln durcheinander, als sei ein Windstoß zwischen sie gefahren. Dicke Geschöpfe auf kleinen Trippelfüßen.
Und Schatten sind sie, Schatten …
Von nahem betrachtet sind alle Menschen auf eintönige Weise verschieden. Vieira sagte, Frei Luis de Sousa habe dies mit »das Gewöhnliche in seiner Einzigartigkeit« beschrieben. Diese Menschen hier sind einzigartig in ihrer Gewöhnlichkeit, im Gegensatz zum Stil von Das Leben des Erzbischofs[16] . All das betrübt mich, und doch ist es mir gleichgültig. Ich bin hier, zufällig, wie alles im Leben.
Im Osten erhebt sich die Stadt, nur zum Teil sichtbar, fast senkrecht und erstürmt statisch das Kastell. Die bleiche Sonne umflort die unerwartete Häusermasse, die sie hier verbirgt, mit einer verschwommenen Aureole. Der Himmel ist von einem feuchtblassen Blau. Vielleicht regnet es heute wieder, doch sanfter als gestern. Der Wind scheint von Osten her zu kommen, denn mit einem Mal riecht es nach reifem Obst und Grünzeug vom nahen Markt. Auf der Ostseite des Platzes tummeln sich mehr Auswärtige als auf der Westseite. Die Rolläden der Geschäfte fallen wie gedämpfte Schüsse nach oben. Ich weiß nicht warum, aber das Geräusch trägt mir diesen Satz zu. Vielleicht, weil sie dieses Geräusch vor allem beim Nach-unten-Gehen verursachen, jetzt jedenfalls gehen sie nach oben. Alles erklärt sich.
Mit einem Mal bin ich allein auf der Welt. Ich sehe all dies von der Höhe eines geistigen Daches aus. Ich bin allein auf der Welt. Sehen heißt abseits stehen. Klar sehen heißt stillstehen. Analysieren heißt fremd sein. Die Leute gehen vorüber, nicht die leichteste Berührung. Um mich nur Luft. Ich fühle mich so mutterseelenallein, daß ich den Abstand zwischen mir und meinem Anzug spüre. Ich bin ein Kind, gehe im Nachthemd, ein schlecht angezündetes Licht in der Hand, durch ein großes, verlassenes Haus. Bewohnt von Schatten, die mich umgeben – nur Schatten, Söhne der toten Dinge und des Lichts, das mich begleitet. Selbst hier, in der Sonne, umgeben mich diese Schatten, doch sind sie Menschen.