Vergils Scholiast täuschte sich. Insbesondere das Verstehen ermüdet uns. Leben heißt, nicht denken.
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Zwei, drei Tage, ähnlich dem Beginn einer Liebe …
Für den Ästheten einzig wegen der Empfindungen, die solches bei ihm auslöst, von Interesse. Weiterzugehen hieße den Bereich von Eifersucht, Leid und Erregung betreten. In diesem Vorzimmer der Gefühle findet man die ganze Süße der Liebe ohne ihre Tiefe – einen leichten Genuß mithin, ein vages Aroma von Wünschen; und wenn auf diese Weise alles Große verlorengeht, das der Tragik jeder Liebe innewohnt, so vergesse man nicht, daß der Ästhet Tragödien zwar mit Interesse verfolgt, aber nur ungern selbst erleidet. Die Sorge um die eigene Befindlichkeit verringert die Sorge um die Phantasie. Es herrscht, wer sich über das Gewöhnliche erhebt.
Ich könnte mich durchaus mit dieser Theorie anfreunden, wäre ich davon zu überzeugen, daß sie nicht ist, was sie ist, nämlich ein aufwendiger Lärm, den ich vor den Ohren meines Verstandes veranstalte, damit er gewissermaßen nicht merkt, daß der Grund für all dies meine Scheu und meine Lebensunfähigkeit ist.
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Ästhetik des Künstlichen
Das Leben schadet dem Ausdruck des Lebens. Erlebte ich eine große Liebe, ich könnte nie von ihr sprechen.
Nicht einmal ich weiß, ob dieses Ich, das ich auf diesen mäandernden Seiten vor Ihnen ausbreite, wirklich existiert oder nur eine ästhetische und zudem falsche Vorstellung von mir selbst ist. Ja, dem ist so. Ich erlebe mich ästhetisch in einem Anderen. Ich habe mein Leben gestaltet wie eine Statue aus einem meinem Sein fremden Stoff. Ich habe mich so sehr außerhalb meiner selbst gestellt, und mein Selbst-Bewußtsein ist mir so sehr zur Kunst geraten, daß ich mich bisweilen selbst nicht erkenne. Wer bin ich hinter dieser Unwirklichkeit? Ich weiß es nicht. Irgend jemand werde ich wohl sein. Und wenn ich nicht zu leben suche, zu handeln, zu fühlen, geschieht dies – glauben Sie mir –, um das bereits fertige Profil meiner mutmaßlichen Persönlichkeit nicht zu verfälschen. Ich will der sein, der ich sein wollte und nicht bin. Gäbe ich dem Leben nach, wäre das Selbstzerstörung. Ich will ein Kunstwerk sein, zumindest in meiner Seele, wenn ich es schon nicht in meinem Körper sein kann. Daher habe ich mich in Stille und Entfremdung gestaltet und mich in ein Treibhaus gestellt, geschützt vor frischer Luft und direktem Licht – dort kann meine Künstlichkeit, wie eine absurde Blume, in ferner Schönheit erblühen.
Bisweilen denke ich, wie schön es wäre, könnte ich meine Träume miteinander verbinden und mir auf diese Weise ein immerwährendes Leben erschaffen, ein Leben aus Tagen mit imaginären Tischgenossen und frei erfundenen Menschen, und könnte ich dieses falsche Leben leben, erleiden und genießen. Unglück widerführe mir, und großes Glück bräche über mich herein. Und nichts an mir wäre wirklich. Doch alles hätte seine erhabene Logik; alles gehorchte einem Rhythmus wonnevoller Falschheit, geschähe in einer Stadt, aus meiner Seele erbaut, irgendwo [am] Bahnsteig neben einem stillstehenden Zug, fern in mir, unendlich fern … Und all dies deutlich, unvermeidbar, wie im äußeren Leben, doch von der Ästhetik einer sterbenden Sonne.
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Unser Leben so gestalten, daß es für andere ein Geheimnis bleibt, daß, wer uns besser kennt, uns nur aus größerer Nähe verkennt als andere. So habe ich mein Leben gestaltet, fast ohne daran zu denken, aber mit einem so kunstvollen Gespür, daß ich selbst mir zu einem alles andere als klar erkennbaren Einzelwesen geworden bin.
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Schreiben heißt vergessen. Die Literatur ist die angenehmste Art, das Leben zu ignorieren. Die Musik wiegt ein, die visuellen Künste beleben, die lebendigen Künste (wie Tanz und Theater) unterhalten. Die Literatur jedoch entfernt sich vom Leben, weil sie das Leben zum Schlaf macht; alle übrigen Künste hingegen bleiben im Leben – die einen, weil sie sich sichtbarer und mithin vitaler Formen bedienen, die anderen, weil sie vom menschlichen Leben leben.
Nicht aber die Literatur. Sie täuscht das Leben vor. Ein Roman ist die Geschichte dessen, was nie war, und ein Drama ein Roman ohne Geschichte. Ein Gedicht ist der Ausdruck von Ideen oder Gefühlen in einer Sprache, die niemand gebraucht, denn niemand spricht in Versen.
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27. 7. 1930
Die meisten Leute leiden an dem Unvermögen, zu sagen, was sie sehen und denken. Es heißt, nichts sei schwieriger als eine Spirale mit Worten zu definieren. Dazu, heißt es wiederum, müsse man in der Luft mit der Hand und ohne Literatur eine stetig aufwärts drehende Bewegung beschreiben, durch die sich jene Sprungfedern und manchen Treppen eigene Form dem Auge darstellt. Doch sobald wir uns vergegenwärtigen, daß sagen erneuern heißt, ist es uns ein leichtes, eine Spirale zu definieren: sie ist ein aufsteigender, sich nie schließender Kreis. Ich weiß wohl, die meisten Leute würden eine solche Definition nie wagen, da sie annehmen, definieren hieße sagen, was andere wollen, daß man sagt, und nicht, was man sagen sollte, um zu definieren. Genauer gesagt: Eine Spirale ist ein virtueller Kreis, der sich aufsteigend fortsetzt, ohne je Kreis zu werden. Aber nein, auch diese Definition ist noch immer abstrakt: Ich werde mich des Konkreten bedienen, und alles wird klar sein: Eine Spirale ist eine vertikal um ein Nichts gewundene Schlange, die keine Schlange ist. Alle Literatur ist ein Versuch, das Leben wirklich werden zu lassen. Wie wir alle wissen, auch wenn wir unwissentlich handeln, ist das Leben in seiner unmittelbaren Wirklichkeit absolut unwirklich; Felder, Städte, Ideen sind gänzlich künstliche Dinge, Ausgeburten der komplexen Wahrnehmung unserer selbst. Alle Eindrücke sind unvermittelbar, es sei denn, wir lassen sie Literatur werden. Kinder sind überaus literarische Wesen, denn sie sprechen, wie sie fühlen, und nicht wie fühlen muß, wer wie ein anderer fühlt. Ich hörte einmal ein Kind, das sagen wollte, es sei den Tränen nahe, nicht sagen: »Ich möchte am liebsten weinen«, wie ein Erwachsener, das heißt ein Dummkopf sagen würde, sondern: »Ich möchte am liebsten Tränen.« Und dieser Satz, so literarisch, daß er bei einem berühmten Dichter affektiert wirkte, sofern er zu ihm in der Lage wäre, bezieht sich unmittelbar auf die warme Gegenwart der Tränen, die bitter den Lidern entströmen. »Ich möchte am liebsten Tränen!« Jenes kleine Kind hat seine Spirale bestens definiert!
Sagen! Sagen können! Durch die geschriebene Stimme und das geistige Bild existieren können! Das macht den Wert des Lebens aus; der Rest sind Männer und Frauen, vermeintliche Lieben und gekünstelte Eitelkeiten, Tücken der Verdauung und des Vergessens, Leute, die zappeln wie Geschmeiß – wenn man einen Stein aufhebt – unter dem großen abstrakten Fels des sinnlos blauen Himmels.
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Ob mich bekümmert, daß niemand liest, was ich schreibe? Ich schreibe, um mich vom Leben abzulenken, und ich veröffentliche, weil dies zur Spielregel gehört. Wenn morgen meine gesamten Aufzeichnungen verlorengingen, würde mich dies schmerzen, doch ich glaube, weniger heftig und wahnsinnig, als man vielleicht annimmt, da in alldem mein ganzes Leben liegt. Es ist nicht anders als mit einer Mutter, die ihr Kind verloren hat: Nach einigen Monaten ist sie wieder da [?] und dieselbe wie zuvor. Die große Erde, die alle Toten aufnimmt, nähme auch – weniger mütterlich – diese beschriebenen Blätter auf. Alles ist ohne Bedeutung, und ich bin sicher, daß so manche, wenn sie das Leben betrachteten, nicht viel Geduld aufbrachten für dieses noch immer wache Kind, sondern sich nach jener Ruhe sehnten, die sich einstellte, sobald das Kind im Bett war.