Ewige Reisende in uns selbst, sind unsere Landschaften, was wir sind. Wir besitzen nichts, weil wir nicht einmal uns besitzen. Wir haben nichts, weil wir nichts sind. Welche Hände sollte ich nach welchem Universum ausstrecken? Das Universum ist nicht mein: ich bin es.
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(Chapter on Indifference or something like that)
Jede ihrer selbst würdige Seele möchte das Leben im Extrem leben. Sich bescheiden mit dem, was man erhält, ist Sklaven eigen. Mehr wollen ist Kindern eigen. Mehr erobern ist Narren eigen, denn alles Erobern ist […]
Das Leben im Extrem leben bedeutet, es bis zum Äußersten zu leben, und das kann man auf dreierlei Art, es ist an jeder höheren Seele, sich eine dieser Arten zu wählen. Das Leben läßt sich durch extreme Besitznahme extrem leben, mittels einer Odyssee durch alle lebbaren Empfindungen, durch alle Formen veräußerlichter Energie. Doch waren es zu allen Weltenzeiten nur wenige, die ihre Augen müde aller Müdigkeiten schließen konnten und alles auf alle Weise besaßen.
Nur wenige können das Leben veranlassen, sich ihnen mit Leib und Seele zu ergeben; sie kennen keine Eifersucht, da sie sich seiner Liebe ganz und gar sicher sind. Doch dies ist gewiß der Wunsch jeder höheren und starken Seele. Stellt diese Seele jedoch fest, daß sie ihren Wunsch nicht verwirklichen kann, daß es ihr an Kraft fehlt, alle Teile des Ganzen zu erobern, so bleiben ihr noch zweierlei Wege: zum einen der Weg des völligen Verzichts, der vollkommenen und strikten Enthaltung, wobei sie in die Sphäre des Empfindungsvermögens verlagert, was sie im Bereich der Aktivität und Energie unmöglich ganz besitzen kann. Lieber erhaben nicht handeln als unnütz, fragmentarisch und unzureichend handeln wie die unzählbar überflüssige, nichtige Mehrheit der Menschen; zum anderen der Weg des vollkommenen Gleichgewichts, die Suche nach der Grenze in absoluter Ausgewogenheit, wobei sich das Verlangen nach dem Extrem vom Willen und vom Gefühl auf die Verstandeskraft verlagert und der ganze Ehrgeiz nunmehr darauf gerichtet ist, nicht das ganze Leben zu leben, nicht das ganze Leben zu fühlen, sondern das ganze Leben zu ordnen, es in innerer und äußerer Übereinstimmung zu erfüllen.
Der Drang zu begreifen, der für so viele edle Seelen den Drang zur Tat ersetzt, gehört in die Sphäre des Empfindungsvermögens. Energie durch Verstandeskraft ersetzen, die Verbindung zwischen Wille und Gefühl unterbrechen, allen Gesten des materiellen Lebens das Interesse nehmen, dies ist, sofern man es vermag, mehr wert als das Leben, das so schwer ganz zu besitzen ist und so traurig, wenn wir es nur zum Teil besitzen.
Die Argonauten sagten, Seefahrt muß sein, nicht aber Leben. Wir, Argonauten eines krankhaften Empfindungsvermögens, sollten sagen, Empfinden muß sein, nicht aber Leben.
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Eure Karavellen, Herr[23] , haben niemals eine Reise unternommen, die in ihrer Bedeutung dem Schiffbruch gleichkommt, den mein Denken mit diesem Buch erlitten hat. Sie umschifften kein Kap, sie sahen kein ferneres Gestade – weder die Kühnheit der Kühnen noch die Vorstellungskraft der Wagemutigen –, das vergleichbar wäre dem Kap, welches ich in meinem Sinnen umschifft, und dem Gestade, an welches ich […] mein Bemühen habe anlaufen lassen.
Kraft Eures Entschlusses, Herr, hat man die wirkliche Welt entdeckt; kraft meines Entschlusses wird man die geistige Welt entdecken.
Eure Argonauten trotzten Ungeheuern und Ängsten. Auch ich mußte auf der Reise meines Denkens Ungeheuern und Ängsten trotzen. Auf dem Weg zum abstrakten Abgrund, auf dem Grund aller Dinge, gilt es Schrecknisse zu durchstehen, unvorstellbar für die Menschen unserer Welt, und Ängste, fremd aller menschlichen Erfahrung; das Kap des gemeinen Meers, das zum Unbestimmten führt, ist menschlicher vielleicht als der abstrakte Weg zum Vakuum der Welt.
Der Heimstatt beraubt, vom Heimweg vertrieben, Witwer für immer der Annehmlichkeit eines immergleichen Lebens, erreichten Eure Sendboten endlich – Ihr wart schon verstorben – das ozeanische Ende der Welt. Sie schauten – stofflich – einen neuen Himmel und eine neue Erde.
Ich, fern der Wege meiner selbst, blind vom Sehen des Lebens, das ich liebe, […], habe endlich auch das leere Ende der Dinge erreicht, das unwägbare Ufer der Grenze aller Wesen, die Pforte ohne Ort zum abstrakten Abgrund der Welt. Ich trat, Herr, durch diese Pforte. Ich irrte, Herr, über dieses Meer. Ich starrte, Herr, in diesen unsichtbaren Abgrund.
Ich widme dieses Werk der höchsten Entdeckung dem Andenken Eures portugiesischen Namens, o Schöpfer der Argonauten.
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10. 12. 1930
Ich kenne lange Phasen des Stillstands. Nicht daß ich, wie so viele, ganze Tage verstreichen ließe, um mit einer Postkarte auf einen eiligen Brief zu antworten. Nicht daß ich, wie kaum einer, das Leichte, mir Nützliche oder das Nützliche, mir Angenehme auf die lange Bank schöbe. Mein mangelndes Einvernehmen mit mir selbst ist subtiler geartet. Ich stehe seelisch still. Wille, Gefühl und Denken setzen aus, und dieses Aussetzen zieht sich über endlose Tage hin; nur das vegetative Leben meiner Seele – Worte, Gesten, Gewohnheiten – bringt mich anderen, und durch sie mir selbst zum Ausdruck.
Während dieser Schattenzeiten bin ich außerstande zu denken, zu fühlen, zu wollen. Ich kann nur Zahlen schreiben oder Striche kritzeln. Ich fühle nichts, und der Tod eines geliebten Menschen wirkt auf mich, als sei er in einer fremden Sprache geschehen. Ich bin hilflos, es ist, als schliefe ich und als seien meine Gesten, meine Worte, mein bewußtes Tun nicht mehr als ein peripheres Atmen, der rhythmische Instinkt irgendeines Organismus.
So vergehen Tage um Tage; und zählte ich sie alle zusammen, wer weiß, wie viele meines Lebens nicht auf die Weise vergangen sind? Bisweilen, wenn ich mich dieser Erstarrung entledige, frage ich mich, ob ich vielleicht nicht weit weniger entblößt dastehe, als ich denke, und ob da nicht noch etwas nicht Greifbares ist, das die ewige Abwesenheit meiner wahren Seele verhüllt, und ich frage mich, ob Denken, Fühlen, Wollen nicht ebenfalls Stillstand bedeuten können angesichts eines weiterreichenden Denkens, eines persönlicheren Fühlens, eines Wollens, verloren im Labyrinth dessen, was ich wirklich bin.
Wie dem auch sei, ich lasse es geschehen. Und dem Gott oder den Göttern, die es geben mag, übergebe ich, was ich bin, so wie das Schicksal es fügt und der Zufall es mit sich bringt, getreu einem vergessenen Versprechen.
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Ich entrüste mich nicht, denn Entrüstung ist für die Starken; ich resigniere nicht, denn Resignation ist für die Edlen; ich schweige nicht, denn Schweigen ist für die Großen. Und ich bin weder stark noch edel noch groß. Ich leide und ich träume. Ich klage, weil ich schwach bin. Und da ich Künstler bin, freue ich mich daran, meine Klagen klingen zu lassen und meine Träume so zu träumen, daß sie schön sind und meiner Vorstellung am ehesten entsprechen.