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Ich bedaure nur, daß ich kein Kind bin, dann könnte ich an meine Träume glauben, und daß ich kein Narr bin, dann könnte ich mir jeden von der Seele halten, der mich bedrängt, […]

Traum war für mich immer Wirklichkeit, zu intensiv gelebt, und somit jener Dorn an der falschen Rose meines erträumten Lebens, der mir selbst die Freude am Traum vergällt, da ich Fehler an ihm finde.

Selbst mit bunt bemalten Fenstern läßt sich das laute Leben draußen, das fremde, nicht vor meinem Blick verbergen.

Glücklich die Macher pessimistischer Systeme! Sie können sich nicht nur auf Vollbrachtes berufen, sondern auch des Dargelegten erfreuen und sich in den Weltschmerz einbeziehen.

Ich klage nicht über die Welt. Ich protestiere nicht im Namen des Universums. Ich bin kein Pessimist. Ich leide und ich klage, weiß allerdings nicht, ob leiden die Regel noch ob leiden menschlich ist. Aber was kümmert’s mich?

Ich leide, ob verdientermaßen, weiß ich nicht. (Ein gejagtes Reh.)

Ich bin kein Pessimist, ich bin traurig.

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Ich habe es stets abgelehnt, verstanden zu werden. Verstanden werden heißt sich prostituieren. Ich ziehe es vor, als derjenige, der ich nicht bin, ernst genommen und als Mensch mit Anstand und Natürlichkeit verkannt zu werden.

Nichts könnte mich mehr empören, als wenn man mich im Büro befremdlich fände. Ich will mich der Ironie erfreuen, für meine Kollegen nicht befremdlich zu sein. Ich will das Büßergewand; für ihresgleichen gehalten zu werden. Ich will die Kreuzigung, nicht erkannt zu sein. Es gibt Martyrien, die subtiler sind als die von Heiligen und Einsiedlern. Es gibt Qualen des Verstandes wie des Leibes und des Verlangens. Und mit ihnen wie mit allen übrigen Qualen ist ein Gefühl der Wollust verbunden […]

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Der Dienstmann verschnürte die täglichen Pakete in der dämmrigen Frische des weitläufigen Büros. »Was für ein Donnerschlag«, sagte er zu niemandem und so laut wie »Guten Tag«, dieser grausame Halunke. Mein Herz begann wieder zu schlagen. Die Apokalypse war vorüber. Man atmete auf.

Welche Befreiung – ein grelles Zucken, Stille, ein krachender Knall –, dieser nahe und bereits ferne Donner hatte uns von allem Gewesenen befreit. Gott hatte aufgehört zu sein. Ich spürte mich mit ganzer Lunge atmen. Es war stickig im Büro. Ich bemerkte, daß sich außer dem Dienstmann noch andere hier aufhielten. Alle waren verstummt. Mit einem Mal ein zittriges, mürbes Geräusch: Es war eine der großen, dicken Seiten des Hauptbuchs, Moreira hatte sie unvermittelt umgeblättert, um etwas zu überprüfen.

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Ich denke oft, wie es mir wohl erginge, wenn ich, vor dem Wind des Schicksals durch die spanische Wand des Reichtums geschützt, nie an der moralischen Hand meines Onkels in ein Lissabonner Büro gekommen und von dort aus nie zu anderen aufgestiegen wäre, den ganzen langen weiten Weg zu dem billigen Gipfel eines guten Hilfsbuchhalters mit einer Arbeit, friedlich wie eine Siesta, und mit einem Gehalt, von dem ich leben kann.

Ich weiß wohl, wäre diese Vergangenheit, die nicht war, gewesen, ich wäre heute zu diesen Seiten nicht imstande, die immerhin etwas sind und daher besser als all die Seiten, von denen ich unter besseren Umständen nur geträumt hätte. Die Banalität ist eine Art Intelligenz und die Wirklichkeit, vor allem wenn sie stumpfsinnig oder bitter ist, ein natürliches Attribut der Seele.

Ich verdanke meinem Buchhalterdasein einen Großteil dessen, was ich fühlen und denken kann, aber auch die Ablehnung dieser Existenz und das Fliehen vor ihr.

Wenn ich in die leeren Spalten eines Fragebogens eintragen sollte, welchen literarischen Einflüssen mein Geist seine Bildung verdankt, eröffnete ich die Liste mit dem Namen Cesario Verdes, doch vergäße ich auch nicht die Namen von Chef Vasques, Buchhalter Moreira, Kassierer Vieira und Bürodiener Antonio. Und als Hauptwohnsitz trüge ich für alle in Großbuchstaben LISSABON ein.

In der Tat stellten sowohl Cesario Verde als auch meine Kollegen Korrekturkoeffizienten für mein Weltbild dar. Ich glaube, dies ist der Fachbegriff (dessen genaue Bedeutung ich begreiflicherweise nicht kenne), mit dem die Ingenieure die Behandlung bezeichnen, die man der Mathematik zuteil werden läßt, damit sie im Leben angewandt werden kann. Stimmt dieser Begriff, ist es so gewesen. Stimmt er nicht, nehmen wir an, er stimmte, und die Absicht wöge die falsche Metapher auf.

Und betrachte ich mit der mir zu Gebote stehenden Klarheit, was mein Leben dem Anschein nach gewesen ist, so sehe ich es als etwas Buntes – als Konfektverpackung oder Zigarrenbauchbinde –, mit leichten Strichen von dem Dienstmädchen, das dies alles über unsere Köpfe hinweg hört, von der Tischdecke in die Schaufel gekehrt, mitsamt den Krümeln und Krusten der Wirklichkeit, wie sie ist. Es unterscheidet sich von anderen Dingen, denen dank eines Privilegs, das ebenfalls dem Kehrblech zum Opfer fällt, das gleiche Schicksal winkt. Und das Gespräch der Götter geht oberhalb dieses Kehrvorgangs weiter, gleichgültig gegenüber derlei Zwischenfällen in der Tagesarbeit der Welt.

Gewiß, wäre ich reich gewesen, beschützt, gebürstet und dekorativ, wäre ich nicht einmal diese kurze Episode hübschen Papiers unter Brosamen gewesen; ich wäre auf dem Teller des Schicksals liegengeblieben – »nein, danke« –, man hätte mich zurück in die Anrichte gestellt, und dort wäre ich alt geworden. So aber, weggeworfen, nachdem man meine brauchbare Substanz verzehrt hat, verschwinde ich samt dem Staub dessen, was vom Leibe Christi übrigblieb, im Mülleimer und kann mir nicht einmal vorstellen, was nun und unter welchen Sternen folgen, unweigerlich folgen wird; das ja.

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Da ich nichts zu tun habe noch denken will, was ich tun könnte, vertraue ich diesem Papier die Beschreibung meines Ideals an –

Notiz:

Die Sensibilität Mallarmés im Stil Vieiras; wie Verlaine im Körper von Horaz träumen; Homer im Mondlicht sein.

Alles auf alle Weise fühlen; mit den Gefühlen denken können und mit dem Denken fühlen; mit coquetterie leiden; klar sehen, um richtig zu schreiben; sich erkennen mit Verstellungskunst und taktischem Geschick; sich als anderer Mensch einbürgern samt allen Dokumenten; kurzum, keine Empfindung nach außen dringen lassen, sie abschälen bis hin zu Gott; dann aber von neuem einwickeln und wieder ins Schaufenster legen wie der Handlungsgehilfe, den ich von hier aus sehen kann, mit den kleinen Schuhcremedosen einer neuen Marke.

All diese Ideale, mögliche wie unmögliche, finden jetzt ein Ende. Ich habe die Wirklichkeit vor mir – es ist nicht einmal der Handlungsgehilfe, es ist seine Hand (ihn kann ich nicht sehen), absurder Tentakel einer Seele mit Familie und Schicksal, tastend wie eine Spinne ohne Netz, sich streckend, während sie die Ware wieder in die Auslage legt.

Und eine der Dosen fällt zu Boden – wie unser aller Schicksal.

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Je genauer ich das Schauspiel der Welt betrachte, den sich beständig ändernden Stand der Dinge, desto überzeugter bin ich vom Fiktiven, das allem eigen ist, vom falschen und hohen Ansehen, das alle Wirklichkeit genießt. Und bei diesem Betrachten, wie es wohl jedem Nachdenkenden zustößt, wirkt die bunte Parade von Sitten und Moden, der komplizierte Lauf von Zivilisation und Fortschritt, das großartige Durcheinander von Imperien und Kulturen, ja, wirkt all dies auf mich wie ein Mythos, eine Fiktion, geträumt zwischen Schatten und Vergessen. Doch ich weiß nicht, ob die höchste Bestimmung dieser Ziele – tot, selbst wenn erreicht – im ekstatischen Entsagen Buddhas liegt, der aufstand aus seiner Ekstase, als er die Leere der Dinge erkannte, und sagte: »Nun weiß ich alles«, oder aber im allzu geübten Gleichmut des Kaisers Severus: »omnia fui, nihil expedit – ich bin alles gewesen, nichts ist der Mühe wert.«