Ich weiß, diese Gedanken der Emotion wüten schmerzlich in unserer Seele. Die Unmöglichkeit, uns etwas vorzustellen, dem sie entsprechen könnten, die Unmöglichkeit, etwas zu finden, mit dem sie in unserer Vorstellung verbunden wären – all das lastet auf uns wie eine Strafe, von der niemand weiß, von wem oder warum sie über uns verhängt wurde.
Hat man all dies gefühlt, bleibt unweigerlich ein Mißfallen am Leben und all seinen Äußerungen, ein vorweggenommenes Überdrüssigsein aller Wünsche, ein namenloses Mißfallen an allen Gefühlen. In diesen Stunden subtilen Kummers wird es uns unmöglich, selbst im Traum, Liebhaber, Held oder glücklich zu sein. All das ist leer, sogar in unserer Vorstellung von dem, was es ist. All das wird in einer anderen, für uns unverständlichen Sprache gesagt, uns rätselhaft klingenden Silben. Das Leben ist hohl, die Seele ist hohl, die Welt ist hohl. Alle Götter sterben eines Todes, größer als der Tod. Alles ist leerer als die Leere. Alles ist ein Chaos inexistenter Dinge.
Wenn ich dies bedenke und mich umblicke, um zu sehen, ob die Wirklichkeit meinen Durst löschen kann, sehe ich ausdruckslose Häuser, ausdruckslose Gesichter und ausdruckslose Gesten. Steine, Körper und Ideen – alles tot. Alle Bewegungen sind Stillstand. Nichts sagt mir etwas. Nichts ist mir vertraut, nicht weil ich es befremdlich fände, sondern weil ich nicht weiß, was es ist. Die Welt ist mir abhanden gekommen. Und auf dem Grund meiner Seele liegt – als einzige Wirklichkeit dieses Augenblicks – ein tiefer, unsichtbarer Kummer, traurig wie ein Weinen in einem dunklen Zimmer.
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Ich empfinde die Zeit als etwas überaus Schmerzliches. Was auch immer ich verlasse, ich verlasse es mit übertriebener Rührung: Das ärmliche Zimmer, in dem ich einige Monate zur Miete wohnte, den Tisch eines Hotels auf dem Land, in dem ich sechs Tage verbrachte, sogar den traurigen Wartesaal des Bahnhofs, in dem ich zwei Stunden mit Warten auf den Zug vertat – ja, so ist es, und die schönen Dinge des Lebens schmerzen mich metaphysisch, muß ich sie verlassen, und meine Nerven sagen mir mit all ihrer Sensibilität, daß ich diese Dinge nie wiedersehen, nie wieder haben werde, zumindest nicht in genau diesem Augenblick. In meiner Seele tut sich ein Abgrund auf, und ein kalter Hauch der Stunde Gottes streift mein bleiches Gesicht.
Zeit! Vergangenheit! Da ist etwas – eine Stimme, ein Gesang, ein gelegentlicher Duft gibt in meiner Seele den Vorhang frei auf meine Erinnerungen … Das, was ich war und nie wieder sein werde! Das, was ich hatte und nie wieder haben werde! Die Toten! Die Verstorbenen, die mich in meiner Kindheit liebten. Wenn ich mich ihrer erinnere, fröstelt meine Seele, und ich fühle mich aus allen Herzen verbannt, allein in der Nacht meiner selbst, weinend wie ein Bettler vor dem geschlossenen Schweigen aller Türen.
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Ferienprosa
Der kleine Strand, der eine noch kleinere, durch zwei Miniaturvorgebirge von der Welt abgeschnittene Bucht bildet, war an diesen drei Ferientagen mein Zufluchtsort vor mir selbst. Man stieg zu ihm über eine primitive Treppe hinab, Stufen, die oben aus Holz begannen, auf halber Höhe in den Fels geschlagen und mit einem Geländer aus rostigem Eisen versehen waren. Immer wenn ich die alte Treppe hinabstieg, insbesondere auf den Felsstufen unter meinen Füßen, verließ ich meine eigene Existenz und fand mich.
Die Okkultisten, oder zumindest einige, sagen, daß es höchste Augenblicke der Seele gibt, in denen sie sich – mit Hilfe der Emotion oder einem Teil des Gedächtnisses – an einen Augenblick, ein Merkmal oder einen Schatten einer früheren Inkarnation erinnert. Und da sie dann zurückkehrt in eine Zeit, die dem Ursprung und Anfang aller Dinge näher ist als das Jetzt, empfindet sie sich in gewisser Weise kindhaft und befreit.
Jedes Mal, wenn ich diese heute wenig benutzte Treppe hinabstieg und langsam den kleinen, stets einsamen Strand betrat, hätte man meinen können, ich bediente mich eines magischen Rituals, um der Monade näher zu sein, die ich vielleicht bin. Bestimmte Formen und Merkmale meines Alltagslebens, die sich in meinem steten Wesen als Verlangen, Widerwille, Unruhe äußern, flohen mich wie Meuchler das Gesetz, verblaßten im Dunkel bis zur Unkenntlichkeit, und ich erreichte ein Stadium innerer Distanz, in dem es mir schwer wurde, mich an das Gestern zu erinnern oder gar das Wesen, das alle Tage in mir lebt, als das meine zu erkennen. Meine steten Gemütsbewegungen, meine stets unsteten Gewohnheiten, meine Gespräche mit anderen, meine Anpassung an das gesellschaftliche Gefüge der Welt – all dies erschien mir wie etwas irgendwo Gelesenes, leblose Seiten einer gedruckten Biographie, Einzelheiten eines Romans, in einem dieser mittleren Kapitel, die wir lesen, während wir an etwas anderes denken und der Handlungsfaden erschlafft, bis er sich auf dem Boden windet.
Am Strand dann, still bis auf die Wellen und den Wind, der hoch oben vorüberzog wie ein nicht vorhandenes Flugzeug, gab ich mich Träumen neuer Art hin – Nebelhaftes, Zartes, Wundersames, einen tiefen Eindruck hinterlassend, ohne Bilder, ohne Emotionen, rein wie Himmel und Wasser, widerhallend wie sich ausbreitende Strudel im Meer, das sich aufbäumt vom Grund einer großen Wahrheit; eine blau flimmernde, schräge Fläche in der Ferne, zu ihren Rändern hin in Grün übergehend, in dem andere schmutziggrüne Töne durchscheinen und die anbrandet, zischt, im bräunlichen Sand in tausend Arme ausläuft, in von Geifer gereinigtem Schaum, in sich alle Brandungen vereinend, alle Rückkehr zur ursprünglichen Freiheit, alle Sehnsucht nach Göttlichem, alle Erinnerung, wie jene eine – unbestimmt und schmerzlos oder glücklich, weil sie gut war oder anders – an einen früheren Zustand, ein Sehnsuchtsleib mit einer Seele aus Schaum, Ruhe, Tod, dieses Alles oder dieses Nichts, das jene Insel der Schiffbrüchigen umgibt, die das Leben ist.
Und ich schlief, ohne schläfrig zu sein, fern schon von dem, was ich mit all meinen Sinnen sah, Dämmerung meines Ichs, Wasserrauschen unter Bäumen, Stille der großen Flüsse, Kühle trauriger Abende, schwerer Atem einer weißen Brust und in ihr Kindheitsschlaf und Kontemplation.
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Die Annehmlichkeit, weder Familie noch Gesellschaft zu haben, dieser angenehme Geschmack nach Exil, in dem der Stolz des Exilierten, das vage Unbehagen, fern von daheim zu sein, durch eine unbestimmte Wonne mildert – all dies genieße ich auf meine Weise, gleichgültig. Denn ein Merkmal meiner Geisteshaltung will es, daß die Aufmerksamkeit für unsere Gefühle nicht über Gebühr gepflegt und selbst der Traum von oben herab betrachtet wird, mit dem aristokratischen Bewußtsein, daß er ohne uns nicht Traum sein kann. Dem Traum zuviel Bedeutung beimessen hieße letztlich einer Sache zuviel Bedeutung beimessen, die sich von uns gelöst, sich – soweit sie kann – zur Wirklichkeit aufgeworfen und somit das absolute Anrecht auf unsere Zuvorkommenheit verwirkt hat.
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Das Alltagsleben ist ein Heim. Der Alltag ist eine Mutter. Nach einem längeren Ausflug in die hohe Poesie, auf die Berge erhabenen Strebens, auf die Felsen des Transzendenten und des Okkulten, schmeckt es besser als gut, schmeckt es nach allem, was warm ist im Leben, wenn man zurückkehrt in die Herberge, wo die glücklichen Toren lachen, um mit ihnen zu trinken, ein Tor wie sie, und wie Gott uns geschaffen hat, zufrieden mit dem Weltall, das uns zuteil geworden ist, und alles übrige denen überlassend, die Berge besteigen, um oben auf der Höhe nichts zu tun.
Es beeindruckt mich nicht, wenn man von einem Menschen, den ich für einen Narren oder Ignoranten halte, sagt, er übertreffe einen Durchschnittsmenschen oftmals an Leistungsfähigkeit. Epileptiker entwickeln während eines Anfalls übermenschliche Stärke; Paranoiker ziehen Schlußfolgerungen, zu denen nur wenige normale Menschen imstande sind; einem religiösen Wahn Verfallene scharen solche Mengen von Gläubigen um sich, wie nur wenige Demagogen es (falls überhaupt) zustande bringen, und das mit einer inneren Überzeugungskraft, die den Demagogen für ihre Anhänger fehlt. All das beweist nur, daß der Wahnsinn Wahnsinn ist. Ich, der ich die Schönheit der Blumen kenne, ziehe eine Niederlage einem Sieg inmitten einer Wüstenei vor; denn letzterer leidet an der Verblendung der mit ihrer Nichtigkeit allein gelassenen Seele.