203
Wir wissen nicht einmal, ob, was mit dem Tag endet, nicht in uns sein Ende nimmt als unnützer Schmerz oder ob wir nur ein Trugbild sind zwischen Schatten und die Wirklichkeit nicht nur die große Stille ohne Wildenten ist, die sich über die Seen senkt, an denen Schilfrohr steht, bevor es bricht. Nichts wissen wir, nicht einmal die Erinnerung an die Geschichten unserer Kindheit bleibt, nur Algen, und schon naht die Liebkosung künftiger Himmel, ein Lufthauch, in dem Unbestimmtheit sich langsam zu Sternen öffnet. Die Votivlampe flackert ungewiß im verwaisten Tempel, die Teiche verlassener Güter werden in der Sonne zu stehenden Gewässern, keiner kennt mehr den einst in den Baumstamm geritzten Namen, die Privilegien der Unbekannten wurden wie schlecht zerrissenes Papier über die Landstraßen verweht, aufgehalten nur von zufälligen Hindernissen. Andere werden sich aus demselben Fenster lehnen wie andere vor ihnen; und wer den finsteren Schatten vergessen hat, wird weiterschlafen und sich nach der Sonne sehnen, die er nie kannte; und ich, der ich wage, ohne zu handeln, werde sterben ohne Reue, im feuchten Schilf, beschmutzt vom Schlamm des nahen Flusses und meiner dumpfen Müdigkeit, unter weiten Herbstabenden, an unmöglichen Grenzen. Und durch all dies hindurch werde ich hinter meinem Tagtraum wie ein Zischen nackter Angst meine Seele spüren – ein klares, tiefes Heulen, vergeblich im Dunkel der Welt.
204
15. 9. 1931
Wolken … Heute erlebe ich den Himmel mit Bewußtsein, es gibt Tage, an denen ich ihn nur fühle und nicht betrachte, da ich in der Stadt lebe und nicht in der Natur, die sie einschließt. Wolken … Sie sind heute für mich das Wesentliche der Wirklichkeit und beschäftigen mich so, als ob das Überwachen des Himmels eine der großen Sorgen meines Schicksals sei. Wolken … Sie ziehen von der Flußmündung hin zum Kastell, von West nach Ost, in zerstreutem, nacktem Tumult. Zuweilen erscheinen sie weiß, wenn sie zerfetzt die Vorhut von etwas Unbekanntem bilden; andere, langsamere sind fast schwarz, wenn der hörbare Wind sie mit Verzögerung hinwegfegt; finster und schmutzigweiß, wenn sie, als wollten sie bleiben, eher mit ihrem Aufkommen als mit ihrem Schatten den falschen Raum verdunkeln, den die Straßen zwischen den geschlossenen Häuserreihen öffnen.
Wolken … Ich existiere, ohne es zu wissen, und werde sterben, ohne es zu wollen. Ich bin der Raum zwischen dem, was ich bin, und dem, was ich nicht bin, zwischen dem, was ich träume, und dem, was das Leben aus mir gemacht hat, der abstrakte und körperliche Mittelwert zwischen Dingen, die nichts sind, da ich ebenfalls nichts bin. Wolken … Welche Unruhe, wenn ich fühle, welches Unbehagen, wenn ich denke, welche Zwecklosigkeit, wenn ich will! Wolken … Sie ziehen noch immer vorüber, manche so groß, daß die Häuser nicht erkennen lassen, ob sie nicht kleiner sind als sie scheinen; andere von unbestimmter Größe, vielleicht zwei zusammen oder eine, die sich zweiteilt, sinnlos in den Höhen des erschöpften Himmels; wieder andere, klein wie Spielzeuge mächtiger Dinge, ungleiche Kugeln eines absurden Spiels und jetzt zu nur einer Seite des Himmels hin, in kalter Isolation.
Wolken … Ich frage mich und kenne mich nicht. Was ich getan habe, war unnütz, und was ich tun werde, läßt sich nicht rechtfertigen. Den Teil des Lebens, den ich nicht mit konfusem Interpretieren nicht existenter Dinge vertan habe, habe ich mit dem Schreiben dieser Prosa vergeudet, dank derer ich mir ein unbekanntes Universum zu eigen mache. Ich bin mich leid, objektiv und subjektiv. Bin alles und alle leid. Wolken … Sie sind alles: sich auflösende Höhen, das einzig Wirkliche heute zwischen der nichtigen Erde und dem nicht existenten Himmel; nicht zu beschreibende Fetzen des Überdrusses, den ich ihnen aufzwinge; zu farblosen Drohungen verdichteter Nebel; schmutzige Wattebäusche eines wandlosen Krankenhauses. Wolken … Sie sind wie ich, ein zerstörter Übergang zwischen Himmel und Erde, einem unsichtbaren Impuls folgend, mit oder ohne Donner; weiß erhellend, schwarz verfinsternd; Fiktionen des Zwischenraums und der Abweichung, fern vom Lärm der Erde und doch ohne die Stille des Himmels. Wolken … Sie ziehen noch immer vorüber, ziehen immerzu vorüber, immer auf ewig; wickeln ihre fahlen Stränge auf und ab, treiben ihren falschen, zerrissenen Himmel wirr und weit auseinander.
205
16. 9. 1931
Fließend endet der vergehende Tag in erschöpftem Purpur. Niemand wird mir sagen, wer ich bin, noch wissen, wer ich war. Ich kam von dem unbekannten Berg hinab ins unbekannte Tal, und meine Schritte waren im langsamen Kommen des Abends Spuren in den Lichtungen des Waldes. Alle, die ich liebte, hatten mich im Schatten vergessen. Niemand wußte von dem letzten Schiff. Auf der Post wußte man nichts von dem Brief, den keiner je schreiben sollte.
Und somit war alles falsch. Man erzählte keine Geschichten, die andere nicht schon erzählt hätten, noch weiß man Genaues von dem, der einst hoffnungsvoll zu falschen Ufern aufbrach, Sohn künftigen Nebels und kommender Unschlüssigkeit. Ich habe einen Namen unter den Zauderern, und dieser Name ist ein Schatten, wie alles.
206
Wald
Ach, nicht einmal die Kammer war wirklich – es war die alte Kammer meiner verlorenen Kindheit! Sie verflüchtigte sich wie Nebel, durchdrang stofflich die weißen Wände meines wirklichen Zimmers, das deutlich und kleiner auftauchte aus dem Dunkel, wie das Leben und der Tag, wie der Schritt des Fuhrmanns und der unbestimmte Klang seiner Peitsche, unter denen die Muskeln im liegenden Leib des noch schläfrigen Tieres emporzucken.
207
Wie viele Dinge, die wir für wahr oder richtig halten, sind nicht mehr als die Spuren unserer Träume, unser schlafwandelndes Unverständnis! Weiß etwa jemand, was wahr oder richtig ist? Wie viele Dinge, die wir für schön halten, sind rein zeitbedingt, eine Erfindung des Ortes und der Stunde? Wie viele Dinge, die wir unser wähnen, sind nur das, wovon wir reine Spiegel oder durchsichtige Hüllen sind – ihrer Natur nach uns fremd!
Je länger ich über unsere Fähigkeit zum Irrtum nachdenke, desto deutlicher spüre ich den feinen Sand zerschlagener Gewißheiten durch meine müden Finger rinnen. Und wenn mir dieses Denken zum Gefühl wird und sich mein Geist bewölkt, erscheint mir die ganze Welt als ein Nebel aus Schatten, ein Zwielicht der Ecken und Kanten, eine Fiktion des Zwischenspiels[36] , eine Morgendämmerung, die auf sich warten läßt. Alles verwandelt sich mir in etwas Absolutes, an sich selbst Gestorbenes, in einen Stillstand von Einzelheiten. Und selbst meine Sinne, auf die ich mein Denken übertrage, um es zu vergessen, sind eine Art Schlaf, etwas Fernes, Beiläufiges, etwas dazwischen, Zufälle der Schatten und der Verwirrung.
In solchen Augenblicken, in denen ich Asketen und Weltflüchtige verstehen könnte, könnte ich denn verstehen, warum jemand all seine Kräfte für etwas Absolutes mobilisiert oder auf irgendeinen Glauben verwendet, der eine Kraft zu wecken vermag, würde ich, wenn ich es könnte, eine ganze Ästhetik der Untröstlichkeit erschaffen, den inneren Rhythmus eines Wiegenliedes, gefiltert von der Zärtlichkeit der Nacht an anderen, fernen Heimstätten.