Выбрать главу

210

Ästhetik der Mutlosigkeit

Veröffentlichen – die Sozialisation seiner selbst. Welch unwürdiges Bedürfnis! Doch immerhin kein wirklicher Akt – der Verleger verdient, der Buchdrucker produziert. Der Vorzug der Inkohärenz zumindest.

Hat der Mensch das Alter geistiger Klarheit erreicht, ist er vor allem bemüht, sich als Handelnder und Denkender nach dem Bild seines Ideals zu formen. Da kein Ideal so sehr die gesamte Logik unserer Seelenaristokratie angesichts des Lärmens der äußerlichen […], der modernen Welt verkörpert wie das der Trägheit, sollte das Träge, das Inaktive unser Ideal sein. Belanglos? Vielleicht. Aber das wird nur diejenigen beunruhigen, für die alles Belanglose einen gewissen Reiz hat.

211

Begeisterung ist geschmacklos.

Begeisterung äußern heißt vor allem, unser Recht auf Unaufrichtigkeit verletzen.

Wir wissen nie, wann wir aufrichtig sind. Vielleicht sind wir es nie. Selbst wenn wir heute aus einem ganz bestimmten Grund aufrichtig sind, sind wir es morgen vielleicht aus einem ganz anderen.

Ich für mein Teil habe niemals Überzeugungen gehabt. Immer nur Eindrücke. Ich könnte nie einen Ort hassen, an dem ich einen aufsehenerregenden Sonnenuntergang erlebt habe.

Eindrücke äußern heißt eher uns davon überzeugen, daß wir sie haben, als daß wir sie wirklich hätten.

212

Meinungen haben heißt sich an sich selbst verkaufen. Keine Meinungen haben heißt existieren. Alle Meinungen haben heißt Dichter sein.

213

Alles verflüchtigt sich mir. Mein ganzes Leben, meine Erinnerungen, meine Phantasie und was sie enthält, meine Persönlichkeit, alles verflüchtigt sich mir. Ständig fühle ich, daß ich ein anderer war, daß ich als anderer fühlte, daß ich als anderer dachte. Ich sehe ein Schauspiel mit einem nicht dazugehörigen Bühnenbild. Und was ich da sehe, das bin ich.

Zuweilen finde ich im Durcheinander meiner literarischen Schubladen Texte, die ich vor zehn, fünfzehn oder vielleicht noch mehr Jahren geschrieben habe. Und viele von ihnen kommen mir vor, als stammten sie aus einer fremden Feder; ich kann mich in ihnen nicht wiedererkennen. Jemand hat sie geschrieben, und dieser Jemand war ich. Ich habe sie gefühlt, aber wie in einem anderen Leben, aus dem ich jetzt aufgewacht wäre wie aus einem fremden Traum.

Häufig finde ich Dinge, die ich geschrieben habe, als ich noch sehr jung war – Notizen aus meinem siebzehnten, aus meinem zwanzigsten Lebensjahr. Und manche besitzen eine Ausdruckskraft, die ich mich nicht erinnern kann, in jenem Lebensabschnitt besessen zu haben. Da stehen Sätze, Satzgefüge, kurze Zeit nach der Pubertät geschrieben, die mir eher von dem zu stammen scheinen, der ich jetzt bin, geprägt von Jahren und Dingen. Und doch stelle ich fest, ich bin derselbe wie damals. Und da ich mir einbilde, verglichen mit dem, was ich war, einen großen Schritt nach vorn getan zu haben, frage ich mich, worin dieser Fortschritt besteht, wenn ich damals derselbe war, der ich heute bin.

Darin liegt ein Geheimnis, das mich entwertet und bedrückt.

Vor Tagen noch erschütterte mich ein kurzer Text aus meiner Vergangenheit. Ich entsinne mich mit aller Deutlichkeit, daß meine zumindest relativen Sprachbedenken erst wenige Jahre alt sind. In einer Schublade fand ich einen sehr viel älteren Text von mir, in dem ich diese Bedenken ausdrücklich betone. Ich habe mich offenbar nicht gekannt in der Vergangenheit. Wie konnte ich zu dem werden, was ich schon war? Wie konnte ich mich heute so erkennen, wie ich mich gestern verkannt habe? Alles verwirrt sich zu einem Labyrinth, in dem ich mich auf meinen eigenen Wegen verirre.

Ich lasse meine Gedanken schweifen und bin gewiß, daß ich das, was ich schreibe, schon geschrieben habe. Ich erinnere mich. Und ich frage den, der in mir zu sein vorgibt, ob es nicht im Platonismus der Empfindungen eine andere, uns zugeneigtere Wiedererinnerung gibt, eine andere Rückerinnerung an ein früheres Leben, die nur aus diesem Leben stammt …

Mein Gott, mein Gott, wen sehe ich da? Wie viele bin ich? Wer ist ich? Was ist dieser Raum zwischen mir und mir?

214

Abermals habe ich eine Aufzeichnung von mir gefunden, auf Französisch, die bereits fünfzehn Jahre zurückliegt. Ich bin nie in Frankreich gewesen, habe nie näheren Umgang mit Franzosen gehabt und bin daher niemals in dieser Sprache so geübt gewesen, als daß ich aus der Übung hätte kommen können. Ich lese heute so viel Französisch wie eh und je. Ich bin älter geworden, praktischer im Denken; ich muß Fortschritte gemacht haben. Und jene Aufzeichnung aus meiner fernen Vergangenheit zeigt eine Sicherheit im Gebrauch des Französischen, die ich heutzutage nicht besitze; der Stil ist so flüssig, wie er mir heute in dieser Sprache nicht zu Gebote steht; es gibt da ganze Abschnitte, vollständige Sätze, Formen und Ausdrucksweisen, die eine Sprachbeherrschung erkennen lassen, die mir abhanden gekommen ist, ohne daß ich mich erinnern könnte, sie je besessen zu haben. Wie erklärt sich das? Wer ist in mir an meine Stelle getreten?

Ich weiß wohl, es ist ein leichtes, eine Theorie vom Verfließen der Dinge und Seelen zu entwerfen, zu begreifen, daß wir ein innerer Lebenslauf sind, sich vorzustellen, daß wir durch uns selbst hindurchgehen, daß wir viele waren … Doch wir haben es hier mit etwas anderem zu tun, nicht mit dem bloßen Dahinströmen der Persönlichkeit zwischen ihren eigenen Ufern; hier ist es das andere Absolute, ein fremdes Wesen, das meines war. Mit fortschreitendem Alter Phantasie, Gefühl, eine bestimmte Intelligenz, eine bestimmte Art des Empfindens verlieren zu müssen – dies alles täte mir weh, ohne mich sonderlich zu verwundern. Aber was erlebe ich, wenn ich mich wie einen Fremden lese? An welchem Rand stehe ich, wenn ich mich selbst in der Tiefe sehe?

Andere Male wieder finde ich Notizen, die ich mich nicht nur nicht erinnern kann, geschrieben zu haben – was kaum erstaunlich ist –, sondern die ich mich nicht einmal erinnere, geschrieben haben zu können – was mich erschreckt. Gewisse Sätze verraten eine andere Mentalität. Es ist, als fände ich ein altes Bild, von dem ich weiß, es ist meines, mit anderer Statur und unbekannten Gesichtszügen – und dennoch unleugbar meines, schreckenerregend ich.

215

Ich vertrete die widersprüchlichsten Meinungen, die unterschiedlichsten Glaubensanschauungen. Daher denke, rede, handle ich nie … Für mich denkt, redet, handelt stets einer meiner Träume, in dem ich mich im entsprechenden Augenblick verkörpere. Ich rede, und ein Ich-Anderer spricht. Als wirklich mein empfinde ich einzig eine enorme Unfähigkeit, eine unermeßliche Leere, ein Unvermögen gegenüber allem, was Leben ist. Ich kenne keine Geste, die wirklichem Handeln entspräche […]

Ich habe nie gelernt zu existieren.

Ich erreiche alles, was ich will, sofern es in mir ist.

Ich wünschte mir, die Lektüre dieses Buches hinterließe bei Ihnen den Eindruck eines wollüstig durchlebten Alptraums.

Was einst moralisch war, ist heute für uns ästhetisch … Was sozial war, ist heute individuell …

Wozu die Dämmerung betrachten, wenn ich in mir die vielfältigsten Dämmerungen habe – einschließlich derer, die keine Dämmerung sind – und wenn ich sie nicht nur in mir betrachte, sondern ich selbst sie bin in meinem Innern?