Wenn nicht das ewige Träumen wäre, das Leben in ständiger Entfremdung, könnte ich mich gut und gern als Realisten bezeichnen, jemanden also, für den die äußere Welt eine unabhängige Nation darstellt. Doch ich ziehe es vor, mich nicht zu benennen, in einem gewissen Dunkel zu belassen, was ich bin, und listig unvorhersehbar zu bleiben, auch für mich.
Ich sehe mich in gewisser Weise verpflichtet, immerfort zu träumen, denn da ich nicht mehr bin noch mehr sein will als ein Beobachter meiner selbst, bin ich mir die bestmögliche Inszenierung schuldig. So gestalte ich mich in Gold und Seide, in imaginären Räumen, auf einer falschen Bühne, mit altem Dekor, ein Traum, erschaffen zu weich spielendem Licht und unsichtbarer Musik.
Heimlich behüte ich, wie die Erinnerung an einen willkommenen Kuß, die Kindheitserinnerung an ein Theater, mit einem bläulichen Mondschein-Bühnenbild, das die Terrasse eines unmöglichen Palastes darstellte, umgeben von einem ebenfalls gemalten weiten Park, und ich erschöpfte meine Seele, dies alles zu erleben, als wäre es wirklich. Die Musik, die dieses Ereignis meiner geistigen Lebenserfahrung sanft untermalte, transponierte das Bühnenbild ins fieberhaft Wirkliche.
Die Bühne war und blieb in bläuliches Mondlicht getaucht. Ich entsinne mich nicht mehr, wer auftrat, doch das Stück, das ich heute mit dieser Erinnerungslandschaft verbinde, entstammt den Versen Verlaines und Pessanhas[38] , es ist anders als das von mir vergessene, das man damals in Szene setzte und das nichts zu tun hatte mit dieser Wirklichkeit blauer Musik. Es war mein eigenes, fließendes Spiel, eine grandiose Mondlicht-Maskerade, ein Zwischenspiel aus Silber und nächtlichem Blau.
Dann kam das Leben. An jenem Abend nahm man mich mit zum Essen in den »Löwen«[39] . Ich habe noch immer den Geschmack der Beefsteaks auf der Zunge meiner Sehnsucht – Beafsteaks, das weiß ich oder nehme es an, wie sie heute niemand mehr bereitet noch ich sie esse. Und alles verschmilzt – die von fern erlebte Kindheit, das schmackhafte Abendessen, die Mondlicht-Bühne, künftiger Verlaine und ich gegenwärtig – zu einer undeutlichen Diagonale, zu diesem trügerischen Raum zwischen dem, was ich war, und dem, was ich bin.
222
Wie an diesen Tagen, an denen sich ein Gewitter zusammenbraut und die Straßengeräusche laut sprechen, jedes für sich.
Die Straße kräuselte sich im grellbleichen Licht, und die fahle Finsternis erzitterte rund um die Welt unter einem Knall krachender Echos … In der trübseligen Unerbittlichkeit des dicht fallenden Regens wirkte das Schwarz der Luft noch intensiver, noch häßlicher. Kalt, lau, warm – alles zugleich –, überall irrte die Luft. Dann schlug quer durch das weitläufige Büro ein metallischer Lichtkeil eine Bresche in den Frieden der menschlichen Körper, eisiger Schrecken, ein Donnern wie von einem rollenden Felsblock, der überall aufschlägt, in harte Stille zerbricht. Das Geräusch des Regens ließ nach, wurde zu einer sanften Stimme. Der Lärm der Straße verebbte beängstigend. Und wieder Licht, ein schnelles Gelb verdeckte die dumpfe Schwärze, doch jetzt konnte man Atem holen, ehe jäh die Faust des Bebens von anderswo widerhallte; als verabschiedete es sich im Zorn, begann das Gewitter hier nicht mehr zu sein.
… mit einem schleppenden, ersterbenden Grollen, lichtlos im zunehmenden Licht, beruhigte sich das Gewitter in fernen Weiten – verstummte in Almada[40] …
Jäh zerbarst ein überhelles Licht. Erstarrte in Köpfen und Räumen [?]. Alles erstarrte. Die Herzen standen still. Wir alle sind überaus empfindsam. Die Stille erschreckt wie der Tod. Das Geräusch des stärker werdenden Regens erleichtert wie Tränen. Blei[schwer die Luft][41] .
223
Das Schwert eines matten Blitzes schwang düster durch den großen Raum. Der folgende Donner – der Atem stand still – entlud sich in die Tiefe, zog ab.
Der Regen brach in lautes Schluchzen aus, wie Klageweiber zwischen ihren Litaneien. Hier im Haus war jedes kleine Geräusch deutlich, unruhig vernehmbar.
224
… diese Episode der Phantasie, die wir Wirklichkeit nennen.
Seit zwei Tagen regnet es, aus dem grauen, kalten Himmel geht ein bestimmter Regen nieder, dessen Farbe die Seele betrübt. Seit zwei Tagen … Ich bin traurig vom Fühlen und denke darüber nach am Fenster beim Geräusch des tropfenden Wassers und des fallenden Regens. Mein Herz ist bedrückt, und meine Erinnerungen sind nur mehr Seelenqual.
Ich bin weder müde, noch habe ich Grund, müde zu sein, und doch verspüre ich ein großes Verlangen nach Schlaf. Damals, als ich Kind war und glücklich, lebte im Hof des Hauses nebenan die Stimme eines grünbunten Papageis. Selbst an Regentagen brabbelte er munter vor sich hin und krächzte – sicher gut geschützt – beharrlich ein Gefühl heraus, das in der tristen Atmosphäre hing wie der vorweggenommene Klang eines Grammophons.
Habe ich an diesen Papagei gedacht, weil ich traurig bin und ihn meine ferne Kindheit in Erinnerung brachte? Nein, in Wirklichkeit habe ich an ihn gedacht, weil aus dem Hof gegenüber gerade eine Papageienstimme schräg schreit.
Alles gerät mir durcheinander. Ich glaube mich zu erinnern und denke an etwas anderes; ich sehe und erkenne nicht, ich bin geistesabwesend und sehe klar.
Ich kehre mich ab von dem grauen Fenster, Scheiben, die sich kalt anfühlen unter meinen Händen. Und durch den Zauber des Halbdunkels ist plötzlich das Innere des Hauses von einst mit mir und der Papagei, der draußen im Nachbarhof schreit; und meine Augen schlafen ein vor Unabänderlichkeit: ich habe gelebt, tatsächlich.
225
16. und 17. 10. 1931
Ja, die Sonne geht unter. Gemächlich und gedankenverloren gelange ich ans Ende der Rua da Alfândega, und kaum leuchtet mir der Terreiro do Paço[42] entgegen, sehe ich deutlich den sonnenlosen Himmel im Westen. Ein blauer Himmel, ins Grüne spielend zum Grauweißen hin, und auf der Linken, über den Hügeln des anderen Tejo-Ufers, ballt sich bräunlich und leblos rosa Nebel zusammen. Ein tiefer, mir fremder Friede beherrscht kalt die abstrakte Herbstluft. Und da er mir fremd ist, bereitet mir die Vorstellung, er sei es nicht, ein vages Vergnügen. Doch in Wirklichkeit ist weder Friede noch kein Friede, nur Himmel, Himmel in allen verblassenden Farben: Weißblau, noch blauendes Grün, Aschgrau zwischen Grün und Blau, verschwommene ferne Farbtöne von Wolken, die keine Wolken sind, schwachgelb getrübt von schwindendem Rot. Und dies alles ergibt ein Bild, das kaum wahrgenommen erlischt, ein beschwingtes Interludium zwischen nichts und nichts, das stattfindet in der Höhe, in Schattierungen des Himmels und des Kummers, unbestimmt und unbegrenzt.
Ich fühle, und ich vergesse. Das Sehnen aller Menschen nach allem durchdringt mich wie ein Opium der kühlen Luft. Das äußere Sehen hat mich innerlich in Ekstase versetzt.
Zur Flußmündung hin, wo die untergehende Sonne Stück um Stück versinkt, erlischt das Licht in fahlem Weiß, das ein kaltes Grün blau färbt. Die Luft steht still vor allem nie Erreichten. Hoch schweigt die Landschaft des Himmels.
In dieser Stunde, in der ich überströmend fühle, wünschte ich, ich könnte schreiben nach allen Regeln der Kunst, begnadet und ungehindert frei. Doch nein: dieser ferne, hohe, sich auflösende Himmel ist alles im Augenblick, und mein Gefühl, ein Wirrwarr so vieler Gefühle, ist nur der Widerschein dieses nichtigen Himmels in einem See in mir – ein See, eingeschlossen von schroffen Felsen, still, mit totem Blick, in dem die Höhe sich selbstvergessen betrachtet.