So viele Male, so viele, hat mich, wie jetzt, das Gefühl zu fühlen bedrückt – Angst fühlen, nur weil es ein Fühlen ist, Beunruhigung über mein Hiersein, Sehnsucht nach Unbekanntem, Sonnenuntergang aller Gefühle, mein Vergilben zur grauen Traurigkeit im äußeren Bewußtsein meiner selbst.
Ach, wer rettet mich vor dem Existieren? Ich will nicht den Tod und auch nicht das Leben: Ich will das andere, das auf dem Grund meines Verlangens glitzert wie ein möglicher Diamant in einer Höhle, zu der man nicht hinabsteigen kann. Es ist das ganze Gewicht und der ganze Kummer dieses wirklichen und unmöglichen Universums, dieses Himmels, Standarte eines unbekannten Heeres, dieser allmählich verblassenden Farben in der erdachten Luft, aus der starr und elektrisch weiß die imaginäre Sichel eines zunehmenden Mondes steigt, herausgeschnitten aus Ferne und Fühllosigkeit.
Dies alles zeigt die Abwesenheit eines wahren Gottes, eine Abwesenheit, die der leere Leichnam des hohen Himmels ist und der verschlossenen Seele. Unendliche Gefangenschaft, und kein Entfliehen, da du unendlich bist!
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Welch wollüstig […], übersinnliches Vergnügen, bisweilen nachts durch die Straßen der Stadt zu streifen und von meiner Seele aus die Häuserzeilen zu betrachten, die unterschiedlichen Bauwerke, die architektonischen Details, das Licht in Fenstern, die Blumentöpfe, die jeden Balkon anders erscheinen lassen – welch unmittelbare, große Freude empfinde ich, wenn beim Anblick all dessen über die Lippen meines Bewußtseins der erlösende Schrei kommt: Nichts, nichts von alledem ist wirklich!
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18. 10. 1931
Ich ziehe die Prosa als Kunstart dem Vers vor, und das aus zwei Gründen. Der erste ist rein persönlicher Art, ich habe keine andere Wahl, denn ich kann nicht in Versen schreiben. Der zweite hingegen ist allgemeiner Art und, wie ich meine, kein Schatten und keine Tarnung des ersten. Es lohnt daher, ihn näher auszuführen, denn er berührt den inneren Sinn allen Kunstwertes.
Ich betrachte die Poesie als ein Zwischending, einen Übergang von der Musik zur Prosa. Wie die Musik ist die Poesie durch rhythmische Gesetze eingeschränkt, die, selbst wenn es nicht die starren Gesetze der Metrik sind, doch als Richtlinien, Zwänge und automatische Vorrichtungen zur Einengung und Züchtigung wirken. In der Prosa reden wir frei. Wir können musikalische Rhythmen einbeziehen und dennoch denken. Wir können poetische Rhythmen einbeziehen und dennoch außerhalb bleiben. Ein gelegentlicher Versrhythmus stört die Prosa nicht; ein gelegentlicher Prosarhythmus hingegen macht den Vers holprig.
Die Prosa umfaßt die gesamte Kunst – einesteils, weil im Wort die ganze Welt enthalten ist, andernteils, weil das freie Wort alle Möglichkeiten enthält, die Welt zu beschreiben und zu denken. In der Prosa geben wir alles transponiert wieder: Farbe und Form, die Malerei nur direkt, in ihnen selbst und ohne innere Dimension wiedergeben kann; Rhythmus, den Musik nur direkt vermitteln kann, in ihm selbst, ohne Formgestalt noch jene zweite Gestalt der Idee; Struktur, die der Architekt aus vorgegebenen, haften, äußeren Dingen schaffen muß, können wir in Rhythmen, Verzögerungen, Abfolgen und flüssigem Stil herstellen; die Wirklichkeit, die der Bildhauer in der Welt zurücklassen muß, ohne Aura noch Transsubstantiation; und schließlich die Poesie, in welcher der Dichter, wie der Initiierte eines okkulten Ordens, sich (wenn auch freiwillig) einem Rang und einem Ritual beugt.
Ich bin überzeugt, daß in einer ideal zivilisierten Welt Prosa die einzige Kunst sein wird. Wir ließen die Sonnenuntergänge Sonnenuntergänge sein und würden die Kunst nur darauf verwenden, sie verbal zu verstehen und in eine verständliche Farbenmusik zu transponieren. Wir ließen die Körper Körper sein und keine Skulpturen, sie behielten ihre lebendige Kontur und ihre sanfte Wärme, die wir sehen und berühren. Wir erbauten Häuser, nur um in ihnen zu wohnen, was letztlich ihre Bestimmung ist. Die Poesie bliebe, damit die Kinder der künftigen Prosa näherkämen, denn die Poesie ist gewiß etwas Kindliches, Mnemonisches, ein Behelf und ein Beginn.
Selbst die kleineren Künste oder jene, die wir so nennen, finden ihren Widerhall in der Prosa. Es gibt eine Prosa, die tanzt, singt und sich selbst deklamiert. Es gibt Wortrhythmen, die tanzen, in denen sich der Gedanke schlängelnd entblößt – in durchscheinender, vollkommener Sinnlichkeit. Und desgleichen theatralische Subtilitäten, in denen ein großer Schauspieler das WORT, rhythmisch das unfaßbare Mysterium des Universums, in seine eigene körperliche Substanz verwandelt.
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Alles hat miteinander zu tun. Die Lektüre der Klassiker, die nie von Sonnenuntergängen sprechen, hat mir viele Sonnenuntergänge verständlich gemacht, in all ihren Farben. Es besteht eine Beziehung zwischen der syntaktischen Kompetenz, mit deren Hilfe wir die Werte von Wesen, Klängen und Formen unterscheiden, und der Fähigkeit, zu erkennen, wann das Blau des Himmels tatsächlich grün und wieviel Gelb im Blaugrün des Himmels ist.
Die Fähigkeit, zu unterscheiden, und die Fähigkeit, »in die Feinheiten zu gehen«, ist im Grunde ein und dasselbe. Ohne Syntax ist keine Emotion von Dauer. Die Unsterblichkeit ist Sache der Grammatiker.
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Lesen heißt durch fremde Hand träumen. Flüchtig lesen heißt uns von der Hand befreien, die uns führt. Oberflächliche Bildung ist die beste Voraussetzung für ein gutes Lesen und Tiefgang.
Wie schäbig und hinterhältig das Leben doch ist! Bedenke, damit es schäbig und hinterhältig ist, reicht es, daß es dir gegen deinen Willen gegeben wird, daß es in nichts von deinem Willen abhängt, ja, nicht einmal von der Illusion deines Willens.
Sterben heißt ein vollkommen Anderer werden. Deshalb ist jeder Freitod feige; durch ihn liefern wir uns dem Leben ganz und gar aus.
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Kunst ist ein sich allem Handeln oder Leben Entziehen. Kunst ist der intellektuelle Ausdruck von Emotion, die wiederum willentlicher Ausdruck des Lebens ist. Was wir nicht haben, nicht wagen oder nicht erreichen, ermöglicht uns der Traum, und mit diesem Traum schaffen wir Kunst. Bisweilen ist die Emotion – wenngleich auf das Handeln beschränkt – so heftig, daß dieses Handeln sie nicht zufriedenstellen kann; mit diesem Zuviel an Emotion, das im Leben keinen Ausdruck gefunden hat, wird das Kunstwerk geschaffen. Somit gibt es zwei Arten von Künstlern: den Künstler, der dem Ausdruck verleiht, was er nicht hat, und den Künstler, der dem Ausdruck verleiht, was er zuviel gehabt hat.
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Etwas schreiben und es anschließend als schlecht erkennen ist eine der großen seelischen Tragödien. Und sie ist besonders groß, wenn man einsehen muß, daß dieses Werk das bestmögliche ist. Doch wenn man sich an ein Werk macht, im voraus wissend, daß es fehlerhaft und verfehlt sein wird, und beim Schreiben selbst sieht, daß dem auch so ist, so stellt dies den Gipfel geistiger Qual und Erniedrigung dar. Ich empfinde nicht nur die Verse, die ich augenblicklich schreibe, als nicht zufriedenstellend, sondern ich weiß auch, daß meine künftigen Verse mich ebensowenig zufriedenstellen werden. Dies verdanke ich einem philosophischen wie körperlichen Wissen, einer dunklen, gladiolengeschmückten Einsicht.