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Ich besitze weder politisches noch soziales Empfinden, doch in gewissem Sinne ein ausgeprägt patriotisches. Mein Vaterland ist die portugiesische Sprache. Es machte mir nichts aus, wenn Portugal angegriffen oder besetzt würde, solange man mich in Frieden ließe. Der einzige und abgrundtiefe Haß aber, zu dem ich fähig bin, gilt nicht denen, die schlechtes Portugiesisch schreiben, nicht denen, die sich der vereinfachten Orthographie[46]   bedienen, sondern einer schlecht geschriebenen Seite, als wäre sie ein Mensch, einer fehlerhaften Syntax, als wäre sie jemand, der Prügel verdient, einer Orthographie ohne Ypsilon[47]  , als wäre sie Spucke, die mich ekelt, gleich wer sie ausspuckt.

Auch die Orthographie ist ein Lebewesen. Das Wort ist vollständig, wenn es gesehen und gehört wird. Und die Galakleidung der griechisch-römischen Transliteration hüllt die Rechtschreibung in ihren wahren Königsmantel und macht sie so zur Herrin und Königin.

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Die Kunst besteht darin, andere fühlen zu machen, was wir fühlen, sie von sich selbst zu befreien und ihnen als besondere Befreiung unsere Persönlichkeit anzubieten. Je tiefer ich etwas fühle, um so schwerer ist es zu vermitteln, was ich aber in meinem Innersten fühle, ist absolut unvermittelbar. Damit ich also einem anderen meine Gefühle vermitteln kann, muß ich sie in seine Sprache übersetzen, das heißt, ich muß, was ich fühle, so formulieren, daß er es beim Lesen genau so empfindet, wie ich es gefühlt habe. Und da dieser Andere durch eine von der Kunst eröffnete Möglichkeit nicht diese oder jene Person ist, sondern jedermann, das heißt die Person, die allen Personen gemein ist, muß ich mein Gefühl in ein allgemein menschliches Gefühl umwandeln, auch wenn auf diese Weise die wahre Natur dessen, was ich gefühlt habe, verfälscht wird.

Abstrakte Dinge sind schwer zu begreifen, denn es ist nicht leicht, die Aufmerksamkeit des Lesers für sie zu wecken. Deshalb werde ich versuchen, meine Abstraktionen anhand eines einfachen Beispiels zu konkretisieren. Angenommen, mich überkommt, aus irgendeinem Grund, vielleicht weil ich es müde bin, Buch zu führen, oder mich das Nichtstun langweilt, eine vage Lebenstraurigkeit, eine tiefinnere Angst vor mir selbst, die mich verwirrt und beunruhigt. Wenn ich diese Emotion in Worte übersetze, die ihr nahekommen, so werden sie, je näher ich ihr mit ihnen komme, immer mehr zu meinen eigenen, und um so weniger vermittle ich anderen. Läßt sich eine Emotion nicht vermitteln, ist es sinnvoller und leichter, sie zu fühlen als zu Papier zu bringen.

Angenommen jedoch, ich möchte sie anderen unbedingt vermitteln, oder genauer, Kunst aus meiner Emotion machen, da Kunst eine Form ist, anderen mitzuteilen, wie identisch wir uns mit ihnen fühlen, denn ohne diese Identität gäbe es weder eine Kommunikation noch das Bedürfnis, sie herzustellen, wenn dem so ist, suche ich herauszufinden, welche unter den allgemein menschlichen Emotionen Ton, Typus und Form meiner augenblicklichen Befindlichkeit aufweist, suche nach den unmenschlichen und persönlichen Gründen, warum ich ein müder Buchhalter oder ein gelangweilter Lissabonner bin. Und ich komme zu dem Schluß, daß diese weit verbreitete Emotion, die sich in einer gewöhnlichen Seele äußert, wie meine Emotion es tut, die Sehnsucht nach der verlorenen Kindheit ist.

Dann habe ich den Schlüssel zur Tür meines Themas gefunden. Ich beschreibe und beklage meine verlorene Kindheit; ich verweile gerührt und in allen Einzelheiten bei Bewohnern und Mobiliar unseres alten Hauses in der Provinz; ich beschwöre das Glücksgefühl herauf, weder Rechte noch Pflichten zu haben, frei zu sein, weil ich weder weiß, wie man denkt, noch, wie man fühlt – und dieses Heraufbeschwören wird, ist es in treffende Worte und Bilder gefaßt, in meinem Leser genau die Emotion auslösen, die ich empfunden habe und die nichts mit meiner Kindheit zu tun hatte.

Habe ich gelogen? Nein, verstanden. Denn die Lüge – ausgenommen die kindliche und spontane Lüge, die dem Wunsch zu träumen entspringt – ist nichts anderes als das Erkennen der wirklichen Existenz anderer und des Bedürfnisses, diese Existenz mit der unseren in Einklang zu bringen, die sich jedoch nicht mit ihr in Einklang bringen läßt. Die Lüge ist schlicht die ideale Sprache der Seele, denn so, wie wir uns der Wörter – absurd artikulierten Lauten – bedienen, um unsere intimsten und subtilsten Gemütsbewegungen und Gedankengänge in wirkliche Sprache zu übersetzen, was Wörter alleine zwangsläufig nie könnten, so bedienen wir uns der Lüge und der Fiktion, um uns miteinander zu verständigen, etwas, das wir vermittels der eigenen und nicht vermittelbaren Wahrheit nie könnten.

Die Kunst lügt, weil sie gesellschaftsbezogen ist. Und es gibt nur zwei große Formen der Kunst – beide wenden sich an unsere Seele, die eine an ihre Tiefe, die andere an ihre Aufmerksamkeit. Die erste ist die Dichtung, die zweite der Roman. Die erste lügt ihrer Anlage nach; die zweite lügt ihrer Absicht nach. Die eine gibt vor, uns die Wahrheit über Zeilen zu vermitteln, die sich strikt an eine Metrik halten, welche die Natur der Sprache Lügen straft; die andere gibt vor, uns die Wahrheit durch eine Wirklichkeit zu vermitteln, von der wir alle genau wissen, daß es sie nie gab.

Täuschen heißt lieben. Wann immer ich ein hübsches Lächeln oder einen bedeutungsvollen Blick sehe, überlege ich sofort – einerlei, wem Lächeln oder Blick gehören –, wer wohl in der Tiefe jener Seele, deren Gesicht uns zulächelt oder anblickt, der Politiker ist, der uns da kaufen will, die Dirne, die will, daß wir sie kaufen. Doch der Politiker, der uns kauft, hat zumindest an seinem Kauf Freude; und die Dirne freut sich zumindest, wenn wir sie kaufen. Ob wir wollen oder nicht, wir können der universalen Brüderlichkeit nicht entkommen. Wir lieben alle einander, und die Lüge ist der Kuß, den wir tauschen.

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Zuneigung bleibt bei mir immer oberflächlich, das allerdings tut sie aufrichtig. Ich bin immer ein Schauspieler gewesen, und zwar ein hervorragender. Wann immer ich geliebt habe, habe ich getan, als liebte ich, und selbst mir gegenüber tue ich so.

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Heute habe ich etwas Absurdes und dennoch Untrügliches wahrgenommen. Mich durchfuhr wie ein Blitz, daß ich niemand bin. Niemand, abolut niemand. Als der Blitz aufleuchtete, lag dort, wo ich eine Stadt vermutete, eine verlassene Ebene; und das düstere Licht, das mir mich zeigte, enthüllte mir keinen Himmel über ihr. Noch ehe die Welt war, nahm man mir die Möglichkeit zu sein. Wenn ich Mensch werden mußte, dann ohne mich, ohne mein Ich.

Ich bin die Umgebung einer inexistenten Stadt, der weitschweifige Kommentar zu einem nie geschriebenen Buch. Ich bin niemand, niemand. Ich vermag nicht zu fühlen, vermag nicht zu denken, vermag nicht zu wollen. Ich bin eine Figur aus einem noch zu schreibenden Roman, die vorüberweht, verstreut in alle Winde, ohne je gewesen zu sein, einer der Träume von jemandem, der mich nicht zu vollenden verstand.

Ich denke immer, fühle immer; doch mein Denken enthält keine Gedanken, mein Gefühlsleben keine Gefühle. Ich falle oben aus der Falltür durch den ganzen unendlichen Raum, in einem Sturz ohne Richtung, unendlichfach und leer. Meine Seele ist ein schwarzer Mahlstrom, ein weites Taumeln rings um die Leere, Bewegung eines endlosen Ozeans rund um ein Loch im Nichts, und in den Gewässern, die eher ein Kreisen als Gewässer sind, treiben die Bilder all dessen, was ich gesehen und gehört habe auf der Welt – strudeln Häuser, Gesichter, Bücher, Kisten, Spuren von Musik und Silben von Stimmen in einem düsteren, unauslotbaren Wirbel.