Und in all dem bin ich, wahrhaft ich, der Mittelpunkt, der einzig in der Geometrie des Abgrunds existiert: Ich bin das Nichts, umkreist um des Kreisens willen, und existiere nur, weil jeder Kreis einen Mittelpunkt besitzt. Ich, wahrhaft ich, bin der Brunnen ohne Wände – doch glitschig, wie Brunnenwände sind –, der Mittelpunkt von allem, umgeben von Nichts.
Er steckt in mir, nicht wie der lachende Dämon im Menschen, sondern das Gelächter der Hölle selbst, der krächzende Wahnsinn des toten Weltalls, der kreisende Leichnam des physischen Raumes, das Ende aller Welten, schwarz wehend im Wind, formlos, zeitlos, ohne einen Gott, der ihn schuf, ohne sich selbst und in finsterster Finsternis kreisend, unmöglich, einzigartig, alles.
Denken können! Fühlen können!
Meine Mutter starb sehr früh, und ich habe sie nicht kennengelernt …
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1. 12. 1931
Mit meinem ausgeprägten Hang zum Überdruß ist es verwunderlich, daß ich mich bis jetzt noch nie gefragt habe, was es damit auf sich hat. Meine Seele befindet sich heute tatsächlich in diesem Zwischenzustand, in dem mir weder das Leben noch sonst etwas zusagt. Und da mir plötzlich einfiel, daß ich die Ursache für meinen Überdruß nie ergründet habe, habe ich beschlossen, ihn vermittels meiner Eindrücke und Gedanken zu analysieren, selbst wenn die Analyse, die mir hier vorschwebt, etwas Künstliches an sich hat.
Ich weiß nicht wirklich, ob der Überdruß nur die wache Entsprechung der schläfrigen Trägheit des Tagediebs ist oder nicht doch etwas Edleres als dessen Passivität. Auch wenn sich bei mir häufig Überdruß einstellt, gehorcht er, soweit ich dies feststellen konnte, keiner bestimmten Regel. Ich kann einen trägen Sonntag ohne Überdruß verbringen oder kann ihn plötzlich inmitten konzentrierten Arbeitens wie eine bedrohliche Wolke über mir empfinden. Ich kann ihn weder mit meiner gesundheitlichen Verfassung in Verbindung bringen, noch scheint er mir mit Dingen tun zu haben, die augenscheinlich in mir selbst begründet liegen.
Sagte ich, er sei eine verkappte metaphysische Angst, eine tiefe unbekannte Enttäuschung, eine stimmlose Poesie der gelangweilten Seele, die am Fenster zum Leben aufblüht – sagte ich dies oder ähnliches, könnte ich dem Überdruß Farbe verleihen wie ein Kind einer Zeichnung, deren Umrisse es übermalt und auslöscht, doch brächte es mir nicht mehr als klingende Worte, die in den Kellern des Gedankens widerhallen.
Überdruß … Denken ohne zu denken, doch müde vom Denken; fühlen ohne zu fühlen, doch mit der Angst zu fühlen; wollen ohne zu wollen, doch mit dem Ekel, der einen wollen macht – all dies steckt im Überdruß, ohne Überdruß zu sein, ist bestenfalls eine Paraphrase von oder eine Metapher für ihn. In der unmittelbaren Empfindung ist dies, als sei über dem Graben der Seelenburg die Zugbrücke hochgegangen und wir könnten das umliegende Land nur mehr betrachten und nicht mehr betreten. Etwas in uns schneidet uns von uns selbst ab, und dieses trennende Element steht ebenso still wie wir, ist ein Graben schmutzigen Wassers um unsere Unkenntnis.
Überdruß … Erleiden ohne Leiden, Wollen ohne Willen, Denken ohne Gedanken … Er ist wie ein Besessensein von einem negativen Dämon, wie ein Verhextsein von nichts. Es heißt, Hexer und Magier könnten mit Abbildern von uns, die sie mißhandeln, uns diese Mißhandlungen durch einen astralen Transfer zuteil werden lassen. Transponiere ich dieses Abbild, erscheint mir der Überdruß als die unheilvolle Widerspiegelung der nicht auf ein Abbild von mir, sondern auf seinen Schatten angewandten Zauberkünste eines Märchendämons. Mein innerer Schatten, das Äußere des Inneren meiner Seele wird mit Zetteln beklebt oder von Nadeln durchstochen. Ich bin wie der Mann, der seinen Schatten verkauft hat[48] , oder besser, wie der Schatten des Mannes, der ihn verkauft hat.
Überdruß … Ich arbeite viel. Ich erfülle das, was die Moralisten des Handelns als meine gesellschaftliche Pflicht bezeichnen würden. Ich erfülle diese Pflicht oder dieses Schicksal ohne sonderliche Anstrengung und ohne ersichtliches Unvermögen. Doch zuweilen kommt mir, inmitten der Arbeit oder einer Ruhepause, die mir den erwähnten Moralisten nach zusteht und zur Freude gereichen sollte, die Galle der Trägheit in der Seele hoch – und ich bin müde, nicht der Arbeit oder des Ruhens, sondern meiner selbst.
Meiner müde, weshalb, wenn ich nicht an mich gedacht habe? Wessen sonst, wenn ich an nichts Bestimmtes gedacht habe? Das Geheimnis des Weltalls, das sich über meine Buchführung legt oder auf meine nachlässige Haltung? Der universelle Lebensschmerz, der sich ganz plötzlich in meiner mediumistischen Seele individualisiert hat? Wozu jemanden so adeln, von dem man nicht weiß, wer er ist? Überdruß ist ein Gefühl der Leere, ein Hunger ohne Appetit, ebenso edel wie die Empfindungen von Gehirn oder Magen, wenn man zu viel geraucht oder schlecht verdaut hat.
Überdruß … Wer weiß, vielleicht ist er die tiefinnere Unzufriedenheit der Seele, weil wir ihr keinen Glauben gelassen haben, die Untröstlichkeit des traurigen Kindes in unserem Inneren, weil wir ihm nicht das göttliche Spielzeug gekauft haben. Vielleicht ist er die Unsicherheit desjenigen, der eine Hand braucht, die ihn leitet, und der auf dem schwarzen Weg der tiefen Empfindung nichts anderes fühlt als die stille Nacht des Nicht-denken-Könnens, als die leere Straße des Nicht-fühlen-Könnens …
Überdruß … Wer Götter hat, verspürt nie Überdruß. Überdruß ist ein Mangel an Mythologie. Wer keinen Glauben hat, dem ist selbst der Zweifel unmöglich, selbst seinem Skeptizismus fehlt die Kraft zum Mißtrauen. Ja, das ist der Überdruß: der Verlust der seelischen Fähigkeit, sich Illusionen zu machen, das gedankliche Fehlen der inexistenten Leiter, auf der er sicher und bestimmt zur Wahrheit aufsteigen kann …
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Metaphorisch gesprochen kenne ich das Gefühl, zu viel gegessen zu haben. Ich kenne es mit meinen Sinnen, nicht mit meinem Magen. Es gibt Tage, an denen hat etwas in mir zu viel gegessen. Dann bin ich im Körper schwer und in der Bewegung unbeholfen und verspüre den Wunsch, mich nicht von der Stelle zu rühren.
Doch bei solchen Gelegenheiten pflegt sich – gleichsam als lästiges Ereignis – ein Rest erloschener Einbildungskraft aus meiner ungestörten Schläfrigkeit zu erheben. Ich schmiede Pläne aus dem Fundus der Unkenntnis, baue Dinge auf dem Fundament von Hypothesen und bin geblendet von all dem, was nie geschehen wird.
In solch befremdlichen Stunden gerät mir nicht nur mein materielles, sondern auch mein moralisches Leben zu einem reinen Anhängsel – ich vernachlässige den Gedanken an die Pflicht, aber auch den Gedanken an das Sein, und das gesamte Universum ermüdet mich physisch. Ich schlafe, was ich kenne, und träume so intensiv und gleichmäßig, daß es mich in den Augen schmerzt. Ja, in diesen Stunden weiß ich mehr über mich, als ich je wußte, und bin ganz allein alle Mittagsruhen aller Bettler unter den Bäumen des Landgutes eines Herrn Niemand.
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Der Gedanke an Reisen lockt mich stellvertretend als der Gedanke schlechthin, um jemanden, der ich nicht bin, zu locken. All das weit Schaubare der Welt zieht wie ein vielfarbener Überdruß durch meine wache Phantasie; ich entwerfe einen Wunsch wie einer, der nicht einen Finger mehr rühren will, und das vorweggenommene Müdesein möglicher Landschaften drückt wie ein rauher Wind die Blume meines welken Herzens nieder.