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Wie mit den Reisen, so mit den Büchern, und wie mit den Büchern, so mit allem übrigen … Ich träume von einem gelehrten Leben in stiller Gemeinschaft mit den Alten und den Modernen, einem Leben, in dem ich meine Emotionen durch fremde Emotionen neu beleben und mich sättigen könnte an widersprüchlichen Gedanken, im Widerspruch zu den Denkern und Fast-Denkern, jener Mehrheit der Schreibenden. Doch allein der Gedanke ans Lesen vergeht mir, kaum nehme ich ein Buch vom Tisch, die Anstrengung des Lesens vergällt mir die Lust am Lesen … und mit dem Reisen ergeht es mir ebenso, kaum nähere ich mich einem Ort, von dem aus ich aufbrechen könnte. Und so kehre ich zurück zu den beiden nichtigen Dingen, deren ich mir, ebenfalls nichtig, sicher bin: zum Alltag eines unbekannten Vorübergehenden und zu den Träumen eines Schlaflosen.

Und wie mit den Büchern, so mit allem übrigen … Kaum kann ich von etwas träumen, das den stillen Lauf meiner Tage tatsächlich unterbräche, sehe ich heftig protestierend zu meiner Sylphide auf, jenem armen Geschöpf, das, hätte es singen gelernt, vielleicht eine Sirene wäre.

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Während meiner ersten Zeit in Lissabon erklangen aus der Etage über uns beständig Tonleitern auf einem Klavier, das eintönige Üben eines Mädchens, das ich nie zu Gesicht bekam. Heute muß ich feststellen, daß ich in den Kellern meiner Seele, wenn die Tür dort unten aufgeht, dank mir unbekannter Infiltrationsvorgänge noch immer die auf dem Klavier heruntergehämmerten Tonleitern des Mädchens höre, das längst eine Frau ist oder tot und eingeschlossen an einem weißen Ort, wo dunkel Zypressen grünen.

Ich bin nicht mehr das Kind von damals; das Geklimper aber ist in meiner Erinnerung, wie es in der Wirklichkeit war; und wenn es von dort erklingt, wo es vorgibt zu schlafen, ist es die immer gleiche langsame Fingerübung, die immer gleiche rhythmische Monotonie. Wenn ich es fühle oder darüber nachdenke, überkommt mich eine vage, beängstigende, mir eigene Traurigkeit.

Ich beweine nicht den Verlust meiner Kindheit; ich weine, weil alles, einschließlich meiner Kindheit, verloren ist. Das abstrakte Verrinnen der Zeit, nicht das konkrete meiner eigenen Tage, schmerzt mich körperlich in meinem Gehirn, das unaufhörliche, unfreiwillige Wiederholen der Tonleitern auf dem Klavier von oben, erschreckend anonym und fern. Das große Geheimnis, daß nichts von Dauer ist, hämmert und wiederholt etwas, das nicht zu Musik gedeiht, sondern auf dem absurden Grund meiner Erinnerungen Sehnsucht bleibt.

Unmerklich entsteht in meiner Vorstellung der kleine Salon, den ich nie sah, in dem die Klavierschülerin, die ich nicht kannte, noch heute längst verhallte, immergleiche Tonleitern sorgfältig Finger um Finger übt. Ich sehe es, sehe mehr und mehr, rekonstruiere sehend. Und vor meinem inneren Auge entsteht aus meinem staunenden Betrachten die gesamte Wohnung im oberen Stockwerk, an die ich mich heute mit einer Sehnsucht erinnere, die ich gestern nicht kannte.

Ich nehme jedoch an, daß es sich hierbei um eine Übertragung handelt, daß die Sehnsucht, die ich verspüre, nicht wirklich meine eigene ist, noch wirklich abstrakt, sondern nur die aufgefangene Emotion irgendeines Dritten, für den diese bei mir literarischen Emotionen buchstäblich vorhanden sind, wie Vieira sagen würde. Meine mutmaßlichen Gefühle also schmerzen und ängstigen mich, und meine Phantasie und »Andersart« ersinnen und verspüren jene Sehnsucht, die mir Tränen in die Augen treibt.

Und immer wieder erklingen mit einer Beständigkeit, die aus der Tiefe der Welt kommt, mit einer Hartnäckigkeit, die metaphysisch übt, die Tonleitern der Klavierschülerin in der Wirbelsäule meiner Erinnerung. Sie sind die Straßen von einst mit anderen Leuten, die gleichen Straßen, die heute anders sind; Tote, die zu mir sprechen durch die Transparenz ihrer Abwesenheit; Schuldgefühle wegen Getanem oder Unterlassenem, Bachgeplätscher in der Nacht, Geräusche unten im stillen Haus.

Schreien möchte ich in meinem Kopf. Sie anhalten, zerbrechen, zermalmen, die unausdenkliche Grammophonplatte, die immerfort spielt in mir, wo sie nicht hingehört, mich foltert, und ich kann nichts tun. Meine Seele, ein Gefährt mit fremden Insassen, soll anhalten, mich aussteigen lassen und ohne mich weiterfahren. Ich werde verrückt bei diesem Zuhören-Müssen. Und doch bin letztlich ich es, in meinem hassenswert sensiblen Gehirn, in meiner dünnen Haut, meinen blankliegenden Nerven, der diese Tonleitern, diese Tasten spielt, o entsetzliches, urpersönliches Piano unserer Erinnerung!

Und unablässig, unablässig, als hätte sich ein Teil meines Gehirns selbständig gemacht, erklingen die Tonleitern unter und über mir, in dem ersten Haus, in dem ich lebte, als ich nach Lissabon kam.

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Es ist der letzte Tod von Kapitän Nemo. Bald sterbe auch ich.

Meine ganze Kindheit wurde in diesem Augenblick der Möglichkeit ihres Fortdauerns beraubt.

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Der Geruchssinn ist ein eigentümliches Sehvermögen. Er beschwört dank einer plötzlichen Zeichnertätigkeit des Unterbewußten Landschaften des Gefühls herauf. Das habe ich oftmals erlebt. Ich gehe durch eine Straße. Ich sehe nichts oder, besser gesagt, indem ich alles anschaue, sehe ich so, wie alle Leute sehen. Ich weiß nicht, daß ich durch eine Straße gehe, und ich weiß nicht, ob sie überhaupt existiert mit ihren Seiten aus unterschiedlichen und von Menschen erbauten Häusern. Ich gehe durch eine Straße. Aus einer Bäckerei duftet es nach Brot, süßlich und ekelerregend: Und meine Kindheit ersteht vor mir, in einem fernen Viertel, und mit ihr eine andere Bäckerei aus jenem Feenreich, dem Inbegriff all dessen, was für uns gestorben ist. Ich gehe durch eine Straße. Plötzlich der Geruch von Früchten, sie liegen auf dem schrägen Gestell eines kleinen, engen Ladens; und mein kurzes Landleben von irgendwann und irgendwo pflanzt Bäume und Ruhe in mein unstreitig kindliches Herz. Ich gehe durch eine Straße. Und schon überrascht und verwirrt mich der Geruch der Kisten des Kistenmachers, und du erscheinst mir, mein Cesário Verde[49]  , und ich bin endlich glücklich, denn ich bin zurückgekehrt, durch die Erinnerung, zur einzigen Wahrheit: der Literatur.

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Ich habe die Pickwick Papers bereits gelesen, und das ist eine der großen Tragödien meines Lebens. (Ich kann sie nicht noch einmal zum ersten Mal lesen.)

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Die Kunst befreit uns illusorisch vom Schmutz des Seins. Solange wir die Leiden und die Schmach Hamlets, des Prinzen von Dänemark, fühlen, fühlen wir die unseren nicht – abscheulich, weil sie die unseren, und abscheulich, weil sie abscheulich sind.

Liebe, Schlaf, Drogen und Rauschmittel sind Elementarformen der Kunst, oder besser gesagt, sie bewirken das gleiche. Doch kennen Liebe, Schlaf und Drogen die Desillusion. Die Liebe wird man leid, oder sie enttäuscht. Aus dem Schlaf erwacht man, und hat man geschlafen, hat man nicht gelebt. Die Drogen bezahlt man mit dem Ruin genau des Körpers, dem sie als Stimulanz dienten. Die Kunst aber kennt keine Desillusion, denn die Illusion ist von vornherein einkalkuliert. Aus der Kunst gibt es kein Erwachen, denn in ihr schlafen wir nicht, auch wenn wir in ihr träumen. Die Kunst fordert von uns für ihren Genuß weder einen Preis noch eine Strafe.

Den Genuß, den Kunst uns bietet, müssen wir, da er in gewisser Weise nicht der unsere ist, weder bezahlen noch bereuen.

Unter Kunst verstehen wir alles, was uns entzückt, ohne daß es uns gehört – eine hinterlassene Spur, ein einem anderen gewährtes Lächeln, ein Sonnenuntergang, ein Gedicht, das objektive Universum.