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Besitzen ist verlieren. Fühlen, ohne zu besitzen, ist bewahren, denn es bedeutet, die Essenz einer Sache zu erfassen.

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Nicht die Liebe lohnt der Mühe, wohl aber ihr Umfeld …

Die unterdrückte Liebe erhellt die Natur der Liebe weit mehr als die gelebte Liebe. Jungfräulichkeit kann der Schlüssel zu einem tieferen Verstehen sein. Handeln lohnt, aber verwirrt. Besitzen heißt besessen sein und sich deshalb verlieren. Nur die Vorstellung erlangt, ohne Schaden zu nehmen, die Kenntnis der Wirklichkeit.

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Christus ist eine Form der Emotion.

Im Pantheon ist Platz für all die Götter, die sich gegenseitig ausschließen, und alle haben ihren Thron und ihre Macht. Jeder einzelne kann alles sein, denn hier gibt es keine Grenzen, nicht einmal logische, und durch die Gegenwart einiger Unsterblicher kommen wir in den Genuß der Gleichzeitigkeit verschiedenster Unendlichkeiten und unterschiedlichster Ewigkeiten.

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Die Geschichte verweigert Gewißheit. Es gibt Zeiten der Ordnung, in denen alles niedrig, und Zeiten der Unordnung, in denen alles erhaben ist. Zeiten des Niedergangs sind reich an geistiger Unerschrockenheit, Zeiten der Stärke an intellektueller Schwäche. Alles vermischt und überschneidet sich, und die Wahrheit existiert nur als Vermutung.

So viele hohe Ideale sind auf den Mist gefallen, so viel aufrichtiges Streben ist in der Gosse gelandet!

Für mich sind Götter wie Menschen im heillosen Durcheinander eines ungewissen Schicksals gleich. Sie ziehen in diesem anonymen vierten Stockwerk durch meine Träume und bedeuten mir nicht mehr als denen, die an sie glaubten. Afrikanische Idole mit ungewissen, schreckensweiten Augen, Tiergötter der Wilden aus dem Busch, figürliche Darstellungen ägyptischer Symbole, helle griechische Gottheiten, starre römische Götter, Mithras, Herr der Sonne und der Emotion, Jesus, Herr der Konsequenz und der Karitas, verschiedene Versionen Christi, neue heilige Götter neuer Städte, alle ziehen vorüber, alle, in diesem Trauerzug (Wallfahrt oder Beerdigung) des Irrtums und der Illusion. Sie alle gehen dahin, gefolgt von Träumen, leeren Schatten, von denen die schlechtesten Träumer meinen, sie seien auf fruchtbaren Boden gefallen: armselige, gestalt- und seelenlose Begriffe – Freiheit, Menschheit, Glück, strahlende Zukunft, Sozialwissenschaft –, schleppen sie sich in dunkler Einsamkeit vorwärts, wie Blätter mitgeschleift von der Schleppe eines königlichen Gewandes, von Bettlern geraubt.

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Ach, der Unterschied, den die Revolutionäre zwischen Bürgern und Volk, zwischen Adligen und Volk oder Regierenden und Regierten machen, ist ein schmerzlich krasser Irrtum. Der eigentliche Unterschied besteht zwischen Angepaßten und Unangepaßten: Alles übrige ist Literatur, und zwar schlechte Literatur. Wenn der Bettler angepaßt ist, kann er morgen König sein, damit jedoch hat er die Kraft, Bettler zu sein, eingebüßt. Er hat die Grenze überschritten und die Nationalität verloren.

Tröstliche Gedanken in diesem engen Büro, dessen schlecht geputzte Fenster auf eine freudlose Straße führen. Sie trösten mich, machen mir die Schöpfer des Weltbewußtseins zu Brüdern: – den hitzköpfigen Dramatiker William Shakespeare, den Schulmeister John Milton, den Vagabunden Dante Alighieri […], ja sogar, falls die Einbeziehung erlaubt ist, jenen Jesus Christus, der nichts war auf der Welt, so daß die Geschichtsschreibung an ihm zweifelt. Die anderen sind von anderer Art – der Staatsrat Johann Wolfgang von Goethe, der Senator Victor Hugo, der Parteichef Lenin, der Duce Mussolini […]

Wir, die wir im Schatten leben, unter Lastenträgern und Friseuren, stellen die Menschheit dar […]

Auf der einen Seite stehen die Könige mit ihrem Prestige, die Kaiser mit ihrem Ruhm, die Genies mit ihrer Aura, die Heiligen mit ihrem Heiligenschein, die Volksführer mit ihrer Herrschaft, die Prostituierten, die Propheten und die Reichen … Auf der anderen Seite stehen wir – der Lastenträger an der Straßenecke, der hitzköpfige Dramatiker William Shakespeare, der Friseur mit seinen Anekdoten, der Schulmeister John Milton, der Lehrling in seinem Laden, der Vagabund Dante Alighieri, diejenigen, die der Tod vergißt oder weiht und die das Leben weihelos vergessen hat.

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Die Regierung der Welt beginnt in uns selbst. Nicht die Aufrichtigen regieren die Welt, doch auch nicht die Unaufrichtigen. Sondern jene, die in sich echte Aufrichtigkeit mit künstlichen und automatischen Mitteln erzeugen; diese Aufrichtigkeit macht sie stark und strahlt auf die weniger falsche Aufrichtigkeit der anderen aus. Die Fähigkeit zum wirksamen Selbstbetrug ist Grundvoraussetzung, um Politiker zu werden. Nur Dichter und Philosophen sind befugt, die Welt zu sehen, wie sie ist, denn allein sie vermögen ohne Illusionen zu leben. Deutlich sehen heißt nicht handeln.

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Eine Meinung haben ist geschmacklos, auch wenn sie nicht aufrichtig ist.

Alle Aufrichtigkeit ist Intoleranz. Es gibt keine aufrichtigen Liberalen. Ganz davon abgesehen, daß es keine Liberalen gibt.

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Alles dort wirkt gebrochen, namenlos und unpassend. Ich habe dort große Zärtlichkeitsbekundungen erlebt, die mir das Wesen armer trauriger Seelen zu enthüllen schienen, doch entdeckte ich, daß diese Bekundungen nie länger dauerten, als sie Worte waren, und – wie ich oft mit dem Scharfblick des Schweigsamen bemerkte – in etwas begründet lagen, das dem Mitleid gleichkam (so schnell verflogen, wie eine Neuigkeit als neu wahrgenommen wird), und zuweilen auch am abendlichen Tischwein der mitleidigen Seele lagen. Die Beziehung zwischen menschenfreundlicher Gesinnung und Tresterschnaps ist seit eh und je unmittelbar, und so manch große Geste wurde schon durch ein Glas zuviel geschmälert oder einen pleonastischen Durst.

Diese Herrschaften hatten allesamt ihre Seele an einen Teufel aus dem Höllenplebs verkauft, der nach Niedertracht und Trägheit gierte. Sie lebten süchtig nach Eitelkeit und Müßiggang und starben ermattet zwischen Kissen aus Worten, zerquetscht wie giftspritzende Skorpione.

Das Außergewöhnlichste an all diesen Leuten war ihre in jeder Hinsicht vollkommene Bedeutungslosigkeit. Einige schrieben für die wichtigsten Zeitungen und schafften es, nicht zu existieren; andere bekleideten öffentliche Ämter, standen in den Jahrbüchern an oberster Stelle und schafften es, im Leben nichts darzustellen; andere waren sogar anerkannte Dichter, doch ihre dümmlichen Gesichter erbleichten unter ein und demselben aschgrauen Staub, und sie nahmen sich allesamt aus wie ein Grabmal starrer Mumien, aufrecht, mit einer Hand auf der Schulter, in der Haltung von Lebenden.

Von der kurzen Zeit, die ich in diesem Exil geistiger Beweglichkeit verharrte, ist mir die Erinnerung an einige gute und wahrhaft vergnügliche Augenblicke geblieben, an viele eintönige und traurige, an aus dem Nichts hervorstechende Profile, an Handbewegungen, die den zufällig bedienenden Kellnerinnen galten und, alles in allem, an einen ekelerregenden Überdruß und den einen oder anderen geistreichen Witz.

Dazwischen, wie Leerräume, einige Männer reiferen Alters, die sich mit ihren altmodischen Bonmots ebenso abfällig wie die anderen äußerten, und über die gleichen Leute.

Nie habe ich so viel Sympathie für die unteren Ränge der Prominenz empfunden wie, als ich sie von diesen Wichten verleumdet sah, die ihnen ihren armseligen Ruhm neideten. Ich verstand, warum diese Parias der Größe triumphieren können: ihr Triumph ist ein Triumph über diese Menschen und nicht über die Menschheit.