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Ich steige erschöpft und wie mechanisch aus. Ich habe soeben das ganze Leben gelebt.

299

Wann immer ich reise, reise ich intensiv. Eine Zugfahrt nach Cascais ermüdet mich, als hätte ich in dieser kurzen Zeit Landschaften und Städte von vier, fünf Ländern durchquert.

In jedem Haus, an dem ich vorüberfahre, in jeder Villa, in jedem einsamen, mit Stille und Weiß gekalktem Landhaus fühle ich mich für Augenblicke leben, zunächst glücklich, dann gelangweilt und zu guter Letzt müde; doch kaum habe ich eines dieser Häuser verlassen, verspüre ich bereits eine heftige Sehnsucht nach der Zeit, in der ich dort lebte. Und so wird jede meiner Reisen zu einer schmerzlich-glücklichen Ernte großer Freuden, beachtlichen Überdrusses und zahlloser erdachter Sehnsüchte.

Und während ich an diesen Villen, Landhäusern und Häusern vorüberfahre, durchlebe ich die Existenzen all ihrer Bewohner. Durchlebe all diese häuslichen Leben zur gleichen Zeit. Ich bin Vater, Mutter, Kinder, Vettern, Dienstmädchen und der Vetter des Dienstmädchens, und all dies zugleich dank meines besonderen Vermögens, gleichzeitig verschiedene und unterschiedliche Dinge wahrzunehmen, gleichzeitig äußerlich beim Sehen und innerlich beim Fühlen das Leben verschiedener Geschöpfe mitzuerleben.

Ich erschuf in mir verschiedene Persönlichkeiten. Ich erschaffe immerzu Persönlichkeiten. Jeder meiner Träume verkörpert sich, sobald ich ihn träume, in einer anderen Person, die ihn dann weiterträumt statt meiner.

Um erschaffen zu können, habe ich mich zerstört; ich habe mich so sehr in mir selbst veräußerlicht, daß ich nur mehr äußerlich in mir existiere. Ich bin die leere Bühne, auf der verschiedene Schauspieler verschiedene Stücke spielen.

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Dreieckiger Traum

In meinem Traum an Deck schreckte ich auf: Meine Seele eines fernen Prinzen durchfuhr eine kalte Vorahnung.

Eine laute, bedrohliche Stille drang wie ein fahler Lufthauch in die sichtbare Atmosphäre des kleinen Raumes.

All das rührt her vom unmäßigen, beunruhigenden Glanz des Mondscheins auf dem Ozean, der bereits nicht mehr einwiegt, sondern aufschreckt; und obgleich ich sie noch nicht hörte, wurde offenkundig, daß nahe dem Prinzenpalast Zypressen stehen.

Das Schwert des ersten Blitzes kreiste unbestimmt im Jenseits … Der Mondschein über der hohen See ist blitzfarben, und all das bedeutet: nur Ruinen sind geblieben und eine ferne Vergangenheit vom Palast des Prinzen, der ich niemals war …

Während das Schiff mit düsterem Rauschen zwischen den Wellenkämmen näher kommt, verdunkelt sich bleich der kleine Raum; nein, er ist nicht gestorben, ist nirgendwo gefangen, aber ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist, dem Prinzen, welch eisig unbekanntes Ding ihm jetzt Schicksal ist …

301

Willst du dir neue Empfindungen beschaffen, mußt du dir eine neue Seele erschaffen. Deine Mühe wird vergebens sein, wenn du anderes empfinden willst, ohne anders zu empfinden, und anders empfindest, ohne deine Seele zu ändern. Denn die Dinge sind, wie wir sie empfinden – wie lange weißt du das schon, ohne es zu wissen? –, und willst du Neues erlangen und Neues empfinden, mußt du Neues neu empfinden.

Die Seele ändern? Wie? Finde es selbst heraus!

Vom Augenblick unserer Geburt an bis hin zum Augenblick unseres Todes verändern sich Seele und Körper langsam. Finde ein Mittel, diese Veränderung zu beschleunigen, so wie sich auch unser Körper bisweilen schneller verändert, wenn er erkrankt oder gesundet.

Lassen wir uns niemals herab, Reden zu halten, andernfalls könnte man glauben, wir hätten Meinungen oder ließen uns herab, mit dem Publikum zu reden. Wenn es sich interessiert, soll es uns lesen.

Überdies ähnelt der Redner dem Schauspieler: ein Lakai der Kunst, den jeder ernsthafte Künstler verachtet.

302

Ich habe bemerkt, daß ich immer an zwei Dinge zugleich denke und ihnen Aufmerksamkeit schenke. Ich glaube, alle Menschen sind ein wenig so. Es gibt Eindrücke, die so vage sind, daß wir erst später, weil wir uns an sie erinnern, wissen, daß wir sie gehabt haben; von diesen Eindrücken, glaube ich, entsteht ein Teil – vielleicht das Kernstück – aus der verdoppelten Aufmerksamkeit aller Menschen. Bei mir ist es so, daß die beiden Wirklichkeiten, auf die ich achte, gleiche Bedeutung besitzen. Darin besteht meine Originalität. Darin besteht vielleicht auch meine Tragödie und deren Komödie.

Ich schreibe aufmerksam, über das Hauptbuch gebeugt, und meine Eintragungen stellen die nutzlose Geschichte einer obskuren Firma zusammen; gleichzeitig verfolgt mein Denken unvermindert aufmerksam die Route eines nicht vorhandenen Schiffes durch die Landschaften eines Orients, den es nicht gibt. Ich sehe beides gleichermaßen deutlich vor mir: das Blatt, auf dessen vorgezeichnete Linien ich sorgsam die Verse des kommerziellen Epos von Vasques & Co. eintrage, und das Schiffsdeck, auf dem ich ebenso sorgsam neben dem geteerten Linienblatt der Fugen zwischen den Planken die lange Reihe der Liegestühle und die ausgestreckten Beine der ruhenden Reisenden betrachte.

(Sollte mich ein Kinderrad anfahren, so wird dieses Kinderrad ein Teil meiner Lebensgeschichte.)

Dazwischen liegt das vorspringende Deckhaus; deshalb kann man nur die Füße sehen.

Ich tauche die Feder ins Tintenfaß, und aus der Tür des Deckhauses – fast genau neben der Stelle, wo ich zu sein fühle – tritt die Gestalt des Unbekannten. Er kehrt mir den Rücken und nähert sich den anderen. Sein Gang ist langsam und seine Hüften ausdruckslos. Er ist Engländer. Ich beginne mit einer neuen Eintragung. Ich versuche herauszufinden, weshalb ich mich geirrt habe. Die Rechnung des Herrn Marques ist auf Soll und nicht auf Haben ausgestellt. (Ich sehe ihn vor mir: dick, liebenswürdig und zu Witzen aufgelegt, und in diesem Augenblick verschwindet das Schiff.)

303

1711932

Die Welt gehört dem, der nicht fühlt. Die Grundvoraussetzung, um ein praktischer Mensch zu werden, ist ein Mangel an Sensibilität. Die beste Vorbedingung für die Praxis des Lebens ist die Triebkraft, die zum Handeln führt, das heißt der Wille. Nun gibt es aber zwei Dinge, die das Handeln beeinträchtigen – die Sensibilität und das analytische Denken, das letztlich nichts anderes ist als ein Denken mit Sensibilität. Jedes Handeln ist seiner Natur nach die Projektion der Persönlichkeit auf die Außenwelt, und da die Außenwelt zur Hauptsache von menschlichen Wesen bestimmt wird, folgt daraus, daß diese Projektion der Persönlichkeit vor allem bedeutet, daß wir uns auf dem Weg unserer Mitmenschen querlegen, ihn hinderlich gestalten und sie je nach Art unseres Vorgehens verletzen und erdrücken.

Zum Handeln gehört folglich eine gewisse Unfähigkeit, sich die Persönlichkeit anderer, ihre Leiden und Freuden vorzustellen. Wer Sympathie empfindet, kommt nicht weiter. Der Mensch der Tat betrachtet die Außenwelt als ausschließlich aus träger Materie zusammengesetzt – als träge in sich selbst wie ein Stein, über den er hinweggeht oder den er aus seinem Weg räumt; oder träge wie ein menschliches Wesen, das, da es ihm nichts entgegenzusetzen vermochte, sowohl ein Mensch wie ein Stein sein kann, denn er räumt es wie einen Stein beiseite oder geht darüber hinweg.